Der japanische Philosoph Kojin Karatani hat eine Theorie der Formen des Austauschs in menschlichen Gesellschaften oder „Tauschmodi“ entwickelt, als Weiterentwicklung und als Alternative zu marxistischen Theorien der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. Ich lerne diese komplexe Theorie gerade kennen. Der vierte von Karatanis Tauschmodi, der „Modus D“, interessiert mich als mögliche Leitlinie für eine konsequente ökologische Transformation.
In den letzten Tagen habe ich mich mit einem Begriff beschäftigt, der mich fasziniert, obwohl – und vielleicht auch gerade weil – er abstrakt ist. Das Konzept wurde von dem japanischen Philosophen Kojin Karatani entwickelt, der dafür den Ausdruck exchange mode D oder mode D prägte. Ich werde hier einfach Modus D dafür benutzen.
Auf Karatani bin ich durch Joel Wainwright gestoßen (Karatani & Wainwright, 2012), den ich in einem Post in der vergangenen Woche erwähnt habe. (Das Buch Climate Leviathan (Wainwright & Mann, 2018) von Wainwright und Mann ist stark von Karatani beeinflusst und zieht aus seinen Theorien Konsequenzen für eine Politik in der Klimakrise – viel reflektierter und gründlicher als in meinem vorläufigen Bemerkungen hier.) Karatani geht davon aus, dass es in menschlichen Gesellschaften vier grundlegende Tauschmodi gibt, die er mit den Buchstaben A, B, C und D bezeichnet.
Drei dieser Modi sind für die sesshaften historischen Gesellschaften charakteristisch. Diese drei Modi, nämlich Gabe (im Sinne von Marcel Mauss, Modus A), Redistribution durch eine zentrale Instanz (Modus B) und Warentausch (Modus C), bilden Karatanis Theorie zufolge das, was man im Marxismus als die ökonomische Basis der Gesellschaft bezeichnet. Nicht die Produktionsweisen, sondern die Tauschweisen bestimmen Karatani zufolge den Rahmen gesellschaftlichen Handelns. Dabei sind in allen oder jedenfalls fast allen Gesellschaften alle drei Tauschmodi zu finden. In nichtstaatlichen Gesellschaften existieren die Modi B und C allerdings nur in Spuren, in staatlichen Gesellschaften dominiert entweder der Modus B oder der Modus C. In den modernen kapitalistischen Gesellschaften verbinden sich die Modi A, B und C zu der Triade „Markt – Staat – Nation“, deren Glieder sich wechselseitig stützen, wobei der Warentausch dominiert.
Im Widerspruch zu allen drei Modi steht der Modus D, den man als eine Rückkehr zum Modus A (dem reziproken Tausch, der – wie Karatani es nennt – „Clangesellschaften“ charakterisiert) auf einem anderen Niveau verstehen kann. Der Austausch in diesem Modus ist reziprok und frei, während der Tausch im Modus A zwar reziprok, aber nicht frei ist. Der Drang, diesen reziproken und freien Tauschmodus zu verwirklichen, besteht für Karatani, solange die anderen Modi dominant sind. Er zeigt sich vor allem in den universalen Religionen, und zwar im Widerspruch zu den weltlichen Ordnungen, in denen die Modi B (z.B. in der Feudalgesellschaft) oder C (in den kapitalistischen Gesellschaften) dominieren.
Nach der ersten und oberflächlichen Lektüre von Texten von und zu Karatani (Karatani, 2014; Karatani, 2017; Wainwright, 2016) habe ich noch viele Fragen dazu, wie er diesen Modus versteht. Er interpretiert ihn sowohl mit freudianischen Begriffen (als Erfüllung eines Triebs, englisch: „drive“) wie kantianisch in Bezug auf den kategorischen Imperativ, demzufolge Menschen nie nur als Mittel behandelt werden dürfen.
Modus D steht für eine Utopie: einen Modus des gesellschaftlichen Austauschs, der nicht auf Akkumulation und zentralisierte Herrschaft ausgerichtet ist. Als exchange mode, Tauschmodus, unterscheidet er sich von einer inhaltlichen Bestimmung eines alternativen gesellschaftlichen Zustands, z.B. durch eine bestimmte Form des Eigentums oder bestimmte Qualitäten von Technologien. Darin sehe ich die Relevanz dieses Konzepts für soziale Bewegungen und konkret für die Klimagerechtigkeitsbewegung.
Modus D als politische Leitlinie
Gerade in seiner Abstraktheit und in seinem utopischen Charakter verstehe ich dieses Konzept als wichtiges Instrument, um politisches Handeln angesichts der ökologischen Krisen und kritische Konzepte, die ein solches Handeln begründen und reflektieren, zu entwerfen. Eine Politik angesichts des Klimanotstands muss, wenn ich es richtig sehe (und auch wenn das angesichts der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen völlig utopisch und vielleicht wirr klingt) auf eine Dominanz des Modus D abzielen, denn der Klimanotstand ist wie die übrigen Überschreitungen der planetaren Grenzen vor allem durch ungebremste Akkumulation bedingt.
Eine Orientierung an diesem Modus ermöglicht es Ziele und eine Politik zu definieren, die nicht in die Fallen von kapitalistischer Akkumulation („grünes Wachstum“) oder zentralisierter Herrschaft („nationalstaatliche Interessenpolitik“) läuft. Eine am Modus D ausgerichtete Politik fordert und stützt sich auf Institutionen, die einer anderen Regeln folgen als denen der Akkumulation von Kapital oder der Kontrolle durch zentrale Instanzen und ist auf Dominanz solcher Institutionen ausgerichtet.
Diese Dominanz bedeutet aber nicht, dass die übrigen Tauschmodi völlig verschwinden, sondern nur, dass sie eingegrenzt werden. Für die Austauschmodi im Sinne Karatanis ist wesentlich, dass sie miteinander verbunden vorkommen können, also nicht historische Phasen definieren, die sich zwangsläufig ablösen. Andererseits sind diese Modi aber deutlich voneinander unterschieden. Sie folgen einer jeweils für sie charakteristischen Logik.
Dementsprechend kann man den Modus D deutlich von anderen Modi abheben ohne darauf zu verzichten, ihn mit anderen zu kombinieren. In einer ökologischen oder Postwachstums-Wirtschaft könnten also trotz Dominanz des Modus D Warenproduktion und staatliche Distribution wichtige Rollen spielen.
Damit entspricht eine an diesem Tauschmodus orientierte Transformationspolitik historischen Beispielen der Durchsetzung dominierender Tauschmodi. Der Kapitalismus hat sich historisch vor allem dadurch durchgesetzt, dass er sich immer mehr als Alternative zu den feudalen Verhältnissen etablierte. Ein Kampf innerhalb eines der herrschenden Tauschmodi führt dagegen zu einem Kompromiss, nicht zum Ende der Dominanz dieses Modus. Karatani zeigt das am Beispiel der Kämpfe der Arbeiterklasse im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Sie zielten vor allem darauf ab, eine gerechte Bezahlung für die Arbeitskraft als Ware zu erhalten und war nicht darauf ausgerichtet, die Dominanz des Modus C, den Kapitalismus, abzuschaffen. (Deshalb forderte der Leninismus angesichts der „Sozialdemokratisierung der Arbeiterschaft“ eine elitäre Partei, die die Staatsmacht erobert und den Kapitalismus abschafft.)
„Modus D“ darf nicht mit etwas empirisch Vorfindbarem verwechselt werden. Aber man diesen Modus D mit Inhalten älterer Utopien und dem utopischen Ziel vieler geschichtlicher gesellschaftlicher Praktiken identifizieren. „Modus D“ steht für eine regulative Idee im Sinne Kants, auf den sich Karatani ausdrücklich beruft. Der Begriff bezieht sich auf eine nicht aufgebbare Zielsetzung und einen Maßstab gesellschaftlicher und politischer Praxis.
Als Realisierung eines Modus D wird das ökologische Handeln dagegen positiv beschreibbar. Der Modus D ermöglicht die Erhaltung eines gesellschaftlichen Metabolismus, in dem kontinuierliche Flüsse von Ressourcen die Hauptrolle spielen. Reguliert werden diese Flüsse von komplexen Netzwerken, die durch regenerativen Austausch, durch nicht auf Akkumulation ausgerichtetes Teilen erhalten und gestärkt werden. Als Konkretisierungen des Modus D verstehe ich Institutionen zum Schutz und zur Kultivierung von Gemeingütern (Commons), wie sie Eleanor Ostrom in der ökologischen Ökonomie (Ostrom, 2000) und Yochai Benkler auf dem Gebiet der Open Source Software-Entwicklung und des Wissensaustauschs (Benkler, 2006) untersucht haben. Auch die Institutionen autonomer, lokaler Communities wie in Rojava und bei den Zapatisten lassen sich dem Modus D zuordnen.
Als erste Alternative zur Ideologie des Wirtschaftswachstums habe ich vor sechs Jahren Schuhmachers „buddhististische Ökonomie“ kennengelernt (Schumacher & Paech, 2019). Auch dieser Ausdruck steht für ein Programm, er ist nicht deskriptiv. Das Konzept „Modus D“ gehört für mich in eine Reihe mit der „buddhististischen Ökonomie“ Schuhmachers, von der es sich als begriffliches Instrument durch seine Abstraktheit und die Verknüpfungsmöglichkeiten mit vielen anderen Begriffen der ökologischen Ökonomie und kritischen Gesellschaftstheorie abhebt.
@Heinz Danke für diese nette Einführung. Erst gestern hatte ichs mit einer Freundin im Gespräch, die mir erklärte, dass die Philosophie eigentlich nicht zögerlich ist neue Worte zu kreiren. Deswegen find ich die Wahl von "Modus D" zu sprechen schon spannend.
Danke! Mich hat tatsächlich dieses neue Wort fasziniert – auch, weil es durch seine „Abstraktheit“ vor Missverständnissen schützt. Das „Climate X“ in dem Levaathan-Buch von Mann und Wainwright kling leider durch Musks Aktivitäten nicht mehr so gut.
Spannend! Und erscheint mir erstaunlich parallel zu Alan Fiskes vier ‚elementary forms of human relations‘, die vielleicht tendenziell analytischer konzipiert sind und in der soziologischen Gerechtigkeitsforschung rezipiert werden: A entspricht ‚equality matching‘, B entspricht ‚authority ranking‘, C entspricht ‚market pricing‘ und D ‚community sharing‘. Auch bei Fiske wird aus diesen Idealtypen dann eine komplexe Realität gebastelt.
Danke! Das finde ich umgekehrt spannend. Ich kenne Fiske bisher überhaupt nicht. Das Modell wirkt tatsächlich ähnlich. – Gibt es bei Fiske auch Überlegungen/Forschungen zu den materiellen Voraussetzungen dieser Formen?