Auf dem Rückweg von der 50-Jahrfeier meines Abitur-Jahrgangs vor einer Woche habe ich in München Station gemacht und am Montag die Foto-Ausstellung Civilization in der Kunsthalle besucht. Mir gingen noch die Gespräche mit meinen Mitschülerinnen und Mitschülern durch den Kopf. Fast alle von ihnen hatte ich 50 Jahre nicht mehr gesehen. Am Sonntagmorgen haben einige von uns noch zusammen in eine Hotel gefrühstückt. Es war uns, glaube ich, allen klar, dass die Generation, die jetzt 20 ist, vor Krisen steht, die der laufend wachsende Wohlstand, die materielle Sicherheit und auch die Realititätsverdrängung unserer Generation zu einem großen Teil verursacht hat.

Einen großen Teil dieser 50 Jahre habe ich in München gelebt, und ich habe es genossen, ohne Verpflichtungen an einem strahlenden Tag in dieser lässigen und etwas zu demonstrativ wohlhabenden Stadt herumzulaufen. Nur langsam habe ich mich in der Kunsthalle auf eine Ausstellung eingestellt, die viel mit dem Wohlstand der vergangenen 50 Jahren und auch viel mit dem zu tun hat, was wir seit 5 Jahren in unserer kleinen Galerie in Graz versuchen. Nach dem Ausstellungsbesuch fiel mir immer mehr von meiner Lektüre zum Anthropozän, zu „material flows“ und zu den ökologischen Krisen ein, und auch von den Fragen dazu, in welcher Beziehung Fotografie und Architekturfotografie zu diesen Themen stehen. Mein Ausstellungsbesuch und das Nachdenken über die Ausstellung danach sind also „überdeterminiert“, und deshalb fällt es mich schwer, darüber zu schreiben.

Die Ausstellung als große Erzählung

Civilization: Wie wir heute leben, Kunsthalle München, © Kunsthalle München, Foto: Nadine Stegemann
Civilization: Wie wir heute leben, Kunsthalle München, © Kunsthalle München, Foto: Nadine Stegemann

Die Ausstellung erzählt eine Geschichte. Es blicken aber nicht einzelne Menschen auf ihre persönliche Geschichte in den vergangenen Jahrzehnten zurück, sondern es werden die letzten Abschnitte der Geschichte „der Zivilisation“ erzählt, einer Akteurin, die die gesamte Menschheit umfasst, und die in eine Zukunft unterwegs ist, die sich aus ihrer Vergangenheit ergibt. Bevor man die Ausstellung betritt, geht man an einem Video über Edward Steichens Ausstellung The Family of Man von 1955 (ein Jahr vor meiner Geburt) und an einer Glaswand mit Jahreszahlen zur Geschichte der Zivilisation entlang. Dann betritt man einen als Prolog gestalteten Raum mit drei Bildern, die Vergangenheit und Zukunft thematisieren: ein Bild einer barocken Bibliothek, eine Darstellung des Pergamon-Altars und seiner Besucherinnen und Besucher von Thomas Struth und ein Bild einer in Guayana aus dem Urwald startenden Ariane-Rakete.

Die übrigen Ausstellungsräume sind nicht zeitlich geordnet. Jeder Raum hat ein Thema, z.B. „Kontrolle“. Lediglich der letzte Raum mit dem Motto „Als Nächstes“ nimmt die historische Einordnung des Gezeigten wieder auf. Als ganze will die Ausstellung ein Panorama der Zivilisation der Gegenwart als einer Phase zwischen der ererbten Vergangenheit und einer Zukunft jenseits der Grenzen des Irdischen geben. (Der größte Teil der Ausstellung ist ein paar Jahre alt. Die Kunsthalle hat sie von der Foundation for the Exhibition of Photography übernommen und ergänzt.)

Die Ausstellung ist gehängt wie eine klassische Gemälde-Ausstellung. Die Bilder sind bis auf wenige Ausnahmen so groß, dass man sie aus dem gleichen Abstand sehen kann. Meist bin ich deshalb von Raum zu Raum und von Bild zu Bild gewandert.

(Den Audioguide zur Ausstellung kann man – möglicherweise nur bis zum Ende der Ausstellung – hier anhören und dabei viele der besprochenen Bilder anschauen.) Einen Eindruck von der Gestaltung der Ausstellung gibt ein Beitrag des BR:

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Artefakte und Materialmassen

Während des Ausstellungsbesuchs stand der sehr starke Fokus auf Massen von Stoff beziehungsweise von technisch Produziertem oder Artefakten für mich im Vordergrund. Immer geht es in diesen Bildern auch um Akkumulation – um Akkumulation von Material und Energie und um Akkumulation von Kapital

Dabei unterstreichen die Bilder das Ungewohnte und Fremdartige der Artefakte. Gleich im ersten eigentlichen Ausstellungsraum sind mir vor allem Robert Polidoris aus mehreren Bildern bestehendes Panorama eines Teils von Mumbai (online hier), Philippe Chancels Darstellung des Baus des Burj Khalifa Towers, (hier auf seiner Website) und ein Luftbild eines Teils von Mexico City (Vista Aerea de la Ciudad de Mexico XIII von Pablo Lopez Luz) aufgefallen. Diese Bilder zeigen Massen von Gebautem, das sich seriell fortsetzt, von Hügel zu Hügel in Mumbai und Mexico City, vom Boden bis in über 800m Höhe in Dubai.

In anderen Räumen werden Fotografien von Artefakten gezeigt, die wie die Stadt- und Architekturbilder des ersten Raums durch ihre Ausdehnung auffallen, aber nicht bewohnt, sondern höchstens von wenigen Menschen benutzt oder bedient werden. Mir bleiben Mich Epsteins Darstellungen der BP Carson-Raffinerie und der riesigen Windräder des Century Wind Projects aus American Power im Gedächtnis, vor allem aber Mishka Henners lange Rolle mit Google-Earth-Bildern von Ölförder-Pumpen in Texas – ein Werk zwischen Fotografie und Kartografie. Der Anfang dieser Rolle liegt auf einem etwa 10m langem Tisch; der größere Teil der Rolle ist aufgewickelt.

Im Raum davor hängt Jeffrey Milsteins Luftaufnahme des Terminals B des Newark Airport 8, das im Text als Schlüsselbild der ganzen Ausstellung bezeichnet wird. Zu Recht, wie ich finde, weil es den Ansatz der Ausstellung gut repräsentiert: eine globalisierte Perspektive auf das, was Orte und Räume miteinander vergleichbar macht, beruhend auf Berechnung und technischer Beherrschung der Distanz und des Raumes.

Modernisierungserzählung und lokale Besonderheiten

Die Anordnung der Ausstellung passt zu dem Modernisierungsdiskurs, der die Texte beherrscht. In dieser Anordnung sind die Bilder aus dem Kontext der Serien gelöst, zu denen sie gehört haben. Die Gegenstände der Bilder werden dann zu visuellen Belegen, zu Symbolen eines übergreifenden historischen Prozesses – der Modernisierung – und zu Details einer großen Einheit – des Globus.

Die Bilder selbst verzeichnen allerdings, wie diese globalisierte Realität lokal produziert wird und wie das Globale immer an etwas Lokales gebunden ist, dessen Besonderheiten nicht in ihm aufgehen. Sie zeigen die lokale, materielle Realität diesseits einer alles umfassenden, nach vorn und in die Zukunft gerichteten Geschichte.

Nicht weit von dem Bild des Flughabens in Newark entfernt hängt Jo Choon Mans Darstellung einer Ölplattform in einem koreanischen Hafen, bevor sie an ihren Bestimmungsort in der Nähe des Polarkreises geschleppt wird (online hier zu sehen). Gerade diese Aufnahme zeigt, dass die Infrastrukturen, die dann für die Globalisierung notwendig sind, eine Vielzahl von lokalen Interventionen voraussetzen, mit denen sehr spezifische lokale Strukturen produziert werden, die Stoff- und Energieflüsse so miteinander zu verbinden, dass sich das Gesamtbild einer einheitlichen Zivilisation ergibt. Zur „Zivilisation“ gehören die besonderen Eigenschaften z.B. des Öls und die Dominanz bestimmter Orte und Räume wie der Region New York, die als Zentren andere Räume miteinander verbinden und zugleich Peripherien schaffen.

Als einzelne betrachtet, ohne den über sie gelegten Kommentar, zeigen die Fotografien sehr unterschiedliche geografische Situationen und Bedingungen. Sie zeigen die technische Beherrschung dieser Bedingungen, sie zeigen Frontlinien der Extraktion von Ressourcen, aber sie zeigen auch, dass diese Beherrschung nicht Beherrschung des Lokalen durch etwas Globales, des Räumlichen durch etwas Unräumliches, Abstraktes, die „Zivilisation“ ist, sondern Beherrschung von Lokalem durch anderes, wiederum Lokales. Der Flughafen von Newark ist ein besonderer Ort, so wie die Slums von Mumbai ein besonderer Ort sind. Die Bedingungen an diesen Orten sind extrem unterschiedlich. Die Verbindungen zwischen diesen Orten, die Bewegungen von Menschen, Gütern und Informationen gleichen diese Orte nicht aneinander an.

Diese Verbindungen können sichtbar sein, etwa bei den Darstellungen von Flugzeugen, Schiffen oder Leitungen. Diese Verbindungen kommen aber auch durch die Fotografie und die Ausstellung selbst zustande. Sie erzeugen dann den „Globus“ oder die „Moderne“ als lokale Phänomene – da, wo wir meinen, sie zu betrachten, z.B. beim Besuch einer Kunsthalle in der Innenstadt von München. Die Ausstellung zeigt nicht „die Zivilisation“, sondern sie macht sie, und zwar als ästhetisches Phänomen, als etwas, das im Überblick und im Rückblick existiert.

Ich denke an die Kritik Bruno Latours an den Konzepten der Modernisierung und des Globus. Wir sind nie modern gewesen, heißt eines seiner Bücher. In vielen späteren Texten schreibt er darüber, dass „Gaia“, dass die lebenserhaltenden Strukturen der Erde nicht als Globus, als eine – so verstehe ich das – übergeordnete Sphäre angesehen werden dürfen, sondern als Zone oder Zonen von Konflikten mit immer neuen Konfigurationen.

Liest man die Ausstellung als eine große Erzählung, dann präsentiert sie die ‚Große Beschleunigung‘, die meine Generation fast ganz miterlebt hat und von der wir profitiert haben. Für uns ist diese Erzählung eine Fortschrittsgeschichte. Dass sie sich so fortsetzen wird, wie die Ausstellungsmacher:innen das nahelegen, ist wenig wahrscheinlich. Die Akkumulation von Material und Energie, die Erzeugung von immer mehr Entropie (die in vielen Bildern dieser Ausstellung sichtbar wird), bedroht die Zivilisation. Im Rückblick und Überblick erscheint uns diese Geschichte als eine große Einheit. Sehen wir sie im Einzelnen, dann ist sie die Geschichte vieler besonderer Konflikte, dann hätte sie immer wieder auch anders verlaufen können. Diese Besonderheiten, die Einmaligkeit der Schauplätze und Konflikte, zeigen die Fotos dieser Ausstellung. Sie stellen die Geschichte in Frage, die sie erzählen sollen.

2 thoughts on “Nachdenken über einen Ausstellungsbesuch: „Civilization“

  1. Sehr interessante Beschreibung einer Ausstellung, die ich noch nicht gesehen habe. Werde ich aber bald! Danke!

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