Latour stellt zu Anfang seines Gaia-Buches die Frage, warum die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel so wirkungslos bleiben (siehe mein letztes Post dazu, indem ich einen ähnlichen Gedanken etwas anders formuliere). Er ruft nicht dazu auf, ihnen mit den üblichen Mitteln der Kommunikation mehr Nachdruck zu verschaffen. Die Strategie, die er vorschlägt, ist eine andere: das wissenschaftliche Arbeiten selbst als politisch zu begreifen, sich darüber klar zu werden, dass Wissenschaft schon immer Fakten öffentlich macht (auch im Sinne von: sie öffentlich produziert) und wissenschaftliche Forschung und politische Aktion integriert zu begreifen. Damit ist nicht gemeint—auch wenn solche Vorwürfe immer wieder gegen Latour erhoben wurden—dass wissenschaftliche Fakten willkürlich sind, dass sie, so wie es die Klimaskeptiker behaupten, aus dunklen Motiven fingiert würden. Gemeint ist vielmehr, dass es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Methoden gibt, mit denen in der Wissenschaft und bei anderen sozialen Praktiken Fakten etabliert werden. Latour wendet sich gegen die Annahme, dass ein Graben die Wissenschaft von Politik und Gesellschaft trennt.

Latour stellt fest,

… dass es notwendig, sich eher an eine kontinuierliche Abfolge von Handlungen zu gewöhnen, die mit Fakten beginnen, sich in einem Alarm verwandeln und auf Entscheidungen hinweisen—und das in beiden Richtungen. Eine doppelte Verkettung, der die Idee der axiologischen Neutralität durch die viel zu frühe Abtrennung des ersten Glieds von den weiteren, eben nicht zu folgen erlaubt (… qu’il faut s’habituer plutôt à un enchaînement continu d’actions qui commencent par des faits qui se prolongent en alerte et qui pointent vers des décisions – et cela dans les deux sens. Double enchaînement que l’idée d’une neutralité axiologique, en retranchant beaucoup trop tôt le premier segment des suivants, ne permet justement pas de prolonger [Zweite Vorlesung, Übersetzung H.W.]; Übersetzung H.W.)

Mich erinnert diese Argumentation an Argumente zur Objektivität des Journalismus und zum politischen Engagement von Journalistinnen und Journalisten. Auch dort wird oft gefordert, Journalisten sollten zwischen der Darstellung der Fakten und ihrer Meinung trennen. Wer unbequeme Fakten aufdeckt, muss sich gegen den Vorwurf wehren, aus politischen und nicht aus journalistischen Motiven zu agieren—so wie der Klimaforschung oft pauschal vorgeworfen wird, politisch motiviert zu agieren. Vom Journalismus wird Äquidistanz gefordert. So sollen z.B., wenn vom Klimawandel die Rede ist, aus Objektivitätsgründen auch Leute zu Wort kommen, die bezweifeln, dass der Klimawandel menschlich verursacht ist. Gegen diese Position wird zu Recht eingewendet, dass es im Journalismus darum geht, Fakten nachvollziehbar herauszuarbeiten, und dass es dafür unerheblich ist, wem die Aufdeckung solcher Fakten schadet. Niemand ist im Journalismus verpflichtet, faktenwidrige Aussagen zu berichten, um allen Seiten gleichermaßen gerecht zu werden.

Wenn ich Latour richtig verstehe, dann fordert er von Wissenschaftlern ein ähnliches Selbstverständnis, wie es viele investigative Journalisten haben—sehr vereinfacht gesagt: Objektivität nicht mit Neutralität zu verwechseln. Die epistemische Krise lässt sich nicht allein mit Argumenten für die Objektivität der Wissenschaft (oder des Journalismus) wirkungsvoll bekämpfen, schon gar nicht, indem man die Forschung (oder den Journalismus) zu einer überweltlichen Instanz idealisiert. Stattdessen muss man die Verbindung von Fakten und politischen Forderungen ernstnehmen.

Ich kann diese Argumentation nicht direkt in Konzepte zur Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse (vor allem von Ergebnissen der Klimaforschung) übersetzen. Ich vermute aber, die übliche populärwissenschaftliche Darstellung von Forschung wird ihr nicht gerecht. Sie erfordert eher—so wie es bei den Scientists 4 Future auch der Fall ist—dass die Forschung die öffentliche Kommunikation nicht als etwas Sekundäres, sondern als ihren Teil begreift. Die Referenzketten (auch ein Ausdruck Latours) zwischen der Gewinnung von Fakten und ihrer gesellschaftlichen und politischen Interpretation dürfen nicht zerrissen werden.

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