Dieses Post ist nur ein Rant; es hat kein Ergebnis. Mich interessiert, ob andere ähnliche Fragen haben: Wie kann man erfasssen, in welchen sozialen Zusammenhängen Webkommunikation stattfindet, ohne etwas über eine Gesamtgesellschaft annehmen zu müssen?
Michael Lynch spricht in Scientific practice and ordinary action von:
… einem Bild der „Gesellschaft“ als einer großen Sache, die die Handlungen und Ereignisse enthält, die wir im Alltag erleben. Weil die große Sache für massiver und stabiler gehalten wird als irgendeins der kleinen Ereignisse, die in ihr stattfinden, wird ihr Vorrang bei der Erklärung gegeben. … Die Schwierigkeit besteht darin, dass es keine szenischen Überblicke oder Satelliten auf Umlaufbahnen gibt, von denen man einen klaren Blick auf die „Gesellschaft als ganze“ bekommen könnte, und dass die alltägliche Lebenswelt auch nicht die Art von Sache ist, die wir anfangen zu verstehen, indem wir ihre objektive Gestalt in ein bequemeres Koordinatensystem verschieben [S. 30; übersetzt von mir].
Bei diesem Abschnitt sind mir gestern Abend zwei Texte eingefallen, die ich in dieser Woche gelesen habe. Einmal ein Kommentar, in dem Jana Herwig in ihrem Blog von einem Forschungsseminar berichtet:
Ja, eine Analyse der Diskurse hat Irmela Schneider am ersten Tag des Forschungsseminars angerissen, wobei sie da von „Narrativen des Digitalen“ sprach und unterschied zwischen:
– (Digitale) Gesellschaft als Next Society (exemplifiziert z.B. an Peter F. Drucker und Dirk Baecker)
– als Brave New World, deren Regel lautet „Nutze die neue Zusammenarbeit oder du wirst untergehen“ (Beispiele: Jeremy Rifkins Empathic Civilization; Wikinomics, etc); die oben genannten Kontexte gehören m.E. am ehersten hier hinein
– als zweite Schöpfung (z.B. Ray Kurzweils SIngularity is near) bzw. dem Zusammenwirken von biologischen Prinzipien und digitaler Technologie im Netzwerk der Wirtschaft.
Außerdem ein langes Blogpost Tim Leberechts: Openness or How Do You Design for the Loss of Control? Es gibt einen Überblick zu vielen aktuellen Diskursen über Arbeitsprozesse und das Enterprise 2.0 und benennt viele der für sie wichtigen Quellen.
Ich habe mit dieser Art von totalisierenden Diskursen—wie Jana wohl auch— ein Problem. Besser gesagt: Ich habe zwei Probleme. Ich frage mich, ob sie irgendetwas erklären—in meinem Arbeitsbereich, der Webkommunikation. Und ich frage mich auch, ob und wie ich ihnen entgehen kann.
Ich glaube nicht, dass wir von sozialen Medien oder sozialen Technologien mehr verstehen oder überhaupt etwas verstehen, wenn wir Tendenzen der ganzen Gesellschaft oder wenigstens der ganzen Arbeitswelt konstruieren, die wir dann in den einzelnen Ereignissen und Entwicklungen wiederfinden. Damit fallen wir genau auf die Illusion eines Punkts außerhalb der Gesellschaft herein (wenn es die Gesellschaft überhaupt gibt), von der Lynch spricht. Natürlich treffen solche Beschreibungen etwas—aber ungefähr so viel, wie früher in der Kunstgeschichte Begriffe wie „Gotik“ oder „Romanik“ über die mittelalterliche Kunst oder gar Gesellschaft gesagt haben. In 20 oder 30 Jahren werden sie uns so alt vorkommen wie die Texte Ernst Jüngers und seiner Generation über den „Arbeiter“.
Die technische Entwicklung der Webkommunikation, die Entwicklung von Formaten, der Erfolg von Firmen auf diesem Gebiet hängen von diesen Diskursen höchstens ab, wenn sie zu Marketing-Zwecken gebraucht werden. Umgekehrt können sie aber vernebeln, was wirklich passiert—z.B. welche Rolle Webkommunikation in bestimmten Arbeitsprozessen spielt und spielen kann.
Ich komme noch einmal zu Lynch zurück. Er schreibt, dass die Akteure in einer Situation sehr genau unterscheiden, welcher Kontext für ihr Handeln wichtig ist. Das scheint mir der beste Ausgangspunkt für die Untersuchung der sozialen Komponenten von Webkommunikation zu sein. Statt von der Next Society oder dem Enterprise 2.0 zu reden, sollten wir thematisieren, wo für die Beteiligten z.B. technische Fragen für die Kommunikation relevant werden (z.B. wenn sie Hürden darstellen), oder wie für sie die Nutzung von Tools (z.B. eines Wikis) von den Kommunikationsverhältnissen am Arbeitsplatz abhängt.
Ja, die sogenannten ‚Big Picture‘-Diskurse scheinen einem Bedürfnis nach Einordnung entgegen zu kommen – leider (Rifkin! Kurzweil!) schlägt das Ganze immer wieder in Propheterie um.
Evtl. liegt es auch am Gegenstand, mit dem wir uns derzeit auseinandersetzen: der sich nämlich kaum als EIN Gegenstand benennen lässt, bzw. (Problem für die Medienwissenschaft) sich als Medium kein eingrenzen lässt. Evtl. erklärt, dass, warum auch in der Medienwissenschaft immer nach Leitdifferenzen gesucht wird, die dann aber ein Eigenleben entwickeln und die konkreten Kontexte (und die Agency der User) etwas außer acht lassen.
Beispiele (aus dem Artikel, an dem ich gerade werkele):
„Die Schwierigkeit, einen eigentlichen Gegenstand einzugrenzen bzw. in dieser Konstellation konsistente Eigenschaften eines Einzelmediums auszumachen kann dazu beitragen haben, dass sich ein Großteil der medien- bzw. geisteswissenschaftlichen Forschung auf die übergreifenden medialen Brüche konzentriert, die entlang von Leitdifferenzen und -themen wie Analog/Digital, Mensch/Maschine, Repräsentation/Code, Narration/Datenbank, Rezeption/Nutzung, Netzwerk oder Virtualität entworfen werden. Als Herausforderung gestaltet sich mitunter deren Übersetzung auf die Ebene der Analyse konkreter digitaler, computer- und netzbasierter medialer Nutzungskonstellationen.“
Dass es nicht reicht vom ‚Internet‘ zu reden, wissen die, die sich näher damit auseinandersetzen, eh schon – das was in den Alltagsdiskursen ‚die MEdien‘ sind, sind in den Prophetendiskursen evtl. technisch bedingte gesellschaftliche Umwälzungen, die sich aber, wie du schreibst, eigentlich kaum beobachten, sondern immer nur als Entwicklungslinien von einem Punkt auerhalb des Ganzen konstruieren lassen (oh, und ich hab mich auch schon zum Skizzieren solcher Linien hinreißen lassen – solang man sich bewusst ist, dass das nur ein heuristisches Hilfsmittel ist und das ganze von einem anderen Punkt ganz anders aussehen kann, ist es auch ok).
Jedenfalls steigert das grade bei mir das Bedürfnis, mich mal mit Latour einzuschließen und danach nur noch ANT-Bericht zu schreiben. Forget the Big Picture!
ja, speziell für „Enterprise 2.0“ kann ich das bestätigen: da nervt genau das inzwischen ungeheuer. dazu verlieren sie sich ständig in irgendwelchem hyper-pragmatischen gepriemel. das ist scheints komplementär. was fehlt, ist eine _mittlere_ ebene. ich finde das am ehesten bei leuten, die sich im dunstkreis von „design theory“ bewegen, die ja selbst noch nicht ausformuliert ist. mir kommt es manchmal so vor, als wäre da die eigentliche, jetzt benötigte medientheorie drin versteckt.
da kann es dann auch schon wieder überblicks-entwürfe zum „web“ als ganzem geben, die nützlich sind (wie der 5-jahres-rückblick von live.hackr zum beispiel).
(@jana: der deutsche netz-medienwissenschafts-diskurs aus den 1990ern, der in deinem kommentar angetippt wird, ist allerdings von grund auf deprimierend. man müsste mit einem neu gelesenen und zugespitzten McLuhan eine „user experience theory“ zusammenzimmern.)
(@martin: vor allem kommt man damit nicht an die dinge heran, die wirklich passieren – darum geht’s in dem auszug, den ganzen (kon-)text wollte ich, da noch unfertig, jetzt nicht rein kippen; ob mcluhan allerdings die antwort ist? er ist als anthropozentriker (ausweitung der sinne…) natürlich die gegenthese zum technikzentrismus der herren kittler und co., den middle ground vermute ich auch hier woanders)
Eine Frage, die zu diskutieren wäre: Verdeckt der Begriff „Medium“ nicht mehr, als er erschließt? Suggeriert er nicht, dass das, was er meint, hauptsächlich dazu dient, die Realität zu repräsentieren? Gehört er nicht in das, was, glaube ich, bei Heidegger irgendwo die „Zeit des Weltbilds“ heisst? Dann wäre McLuhan wohl eher ausgehend vom „Web“ zu kritisieren.
Vielleicht ist Zeit für eine lange Diskussion (zuerst mit euch beiden, Jana und Martin) über „Webwissenschaft“ und akademischen Diskurs.
@Heinz Guter Punkt. Mir fällt immer wieder in meiner eigenen Arbeit auf, dass ich mich davor drücke, meinen Medienbegriff zu definieren (wurde gebeten, das bei dem Forschungsseminar zu tun), und denke, dass das daran liegt, dass er in der Tat mehr verdeckt als weiterhilft. In der (geisteswissenschaftlichen) Medienwissenschaft haben wir es seit einigen Jahren mit der Intermedialitätsdebatte zu tun, die einerseits implizit immer wieder ‚Einzelmedien‘ postuliert oder aber alternativ einem die Möglichkeit eines Spektrums von Medien (z.B. „von Kino bis TV“) liefert. Möglicherweise ist eines so irreführend wie das andere bzw. wird der Intermedialitätsbegriff erst produktiv, wenn man ihn als Anzeichen von etwas sich in der Auflösung befindlichen betrachten.
Wie wäre es mit einer webwissenschaftlichen Klausur Ende September in Wien oder Graz? Schicke gerne vorher den Text, den ich gerade beackere, denn da stellt sich die Frage für mich permanent.
@digiom Die Idee einer Klausur finde ich sehr gut! Wir starten ja im Oktober offiziell unser Web Literacy Lab, dazu würde sie gut passen.
Könnte man den Medienbegriff nicht angehen indem man fragt, woran Benutzer erkennen, das etwas ein Medium ist bzw. wie sie etwas zu einem Medium machen? Mit dem dem "Medium" sind vermutlich spezifische Interaktionen verbunden, die es z.B. zur Darstellung von Dingen in "der Gesellschaft", "der Politik" machen.
Man kann vielleicht Luhmanns These, dass wir über die Massenmedien wissen, was in der Gesellschaft passiert, umdrehen und sagen: Wir haben mit Massenmedien zu tun, wenn wir etwas so interpretieren können, dass es ein Bild "der Gesellschaft", der Welt im Großen gibt. Die Gesellschaft ist so etwas wie der Referent der Massenmedien. Wobei zu einem Medium lokale Gespräche gehören, der Talk über das Medium.
Das ist natürlich sehr grob … Und bei diesem Ansatz geht es auch nicht um eine Theorie, sondern man müsste entsprechende empirische Untersuchungen durchführen (wie sie vielleich Jörg Bergmann vorgenommen hat).
Das Sichtbarwerden des Mediums ist ja sozusagen einer der Gründungsmomente der (geisteswissenschaftlichen) Medienwissenschaft (deutschsprachiger Prägung, uff). Erst in der Störung, wenn es NICHT funktioniert, wie es der Alltagsannahme nach funktionieren sollte, nicht unsichtbar ist, dann zeigt sich das Faktum der Mediatisierung…
Man könnte gut mit Jay Bolters Remediation beginnen, das ich bislang noch nicht unter dem Aspekt der Störung gelesen habe; die Prinzipien der Transparenz und der Opakheit (Opazität?) wären m.E. ein guter Ansatz, weil er sich dabei auch auf die verschachtelten Interfaces im HCI und Web bezieht.
Dies hier wollte ich mir auch endlich mal vornehmen:
Signale der Störung
* Autor/in: Kümmel-Schnur, Albert [Hrsg.]
* Verlag: München : Fink
* Erscheinungsjahr: 2003
Können wir Luhmanns Massenmedienthese jetzt eigentlich noch anwenden? In meinem eigenen Verhalten ist das einiges im Umschwung…
Übrigens: Es war mir gar nicht bewusst, dass Ethnomethodologie ein eigener Ansatz ist, pardon, habe gerade ein bisschen drüber nachgelesen.