Gernot Wagner, dessen Interventionen zur Klimapolitik ich sehr schätze, fordert in einem Kommentar für das Project Syndicate einen „Green Growth Mindset“ (Wagner, 2023). Die Debatte zwischen Green Growth und Degrowth hält er für ein Ablenkungsmanöver. Gemeinsam sei Green Growth und Degrowth-Vertreter:innen das Interesse daran, die Treibhausgasemissionen schnellstmöglich zu senken. Diese Senkung bedeute Wachstum überall da, wo in erneuerbare Energien und in größere Effizienz investiert wird.
Gernot Wagner ist ein ausgewiesener Ökonom, und ich möchte ihm fachlich nicht widersprechen. In diesem Artikel argumentiert er aber als Rhetoriker: gegen die Degrowth-Rhetorik und für eine Green Growth-Rhetorik. Diese Argumentation kann ich auch als Nichtökonom kritisieren – ausgehend von den klimapolitischen Entwicklungen, die sich mithilfe von Medien beobachten lassen. Sie zeigen, ob und wo Green Growth in der Praxis funktioniert.
Die Emissionen sinken nicht
Gernot Wagner versucht, Green Growth auf seine eigene Weise zu definieren, nämlich als Wachstum der grünen Bereiche der Wirtschaft. In der öffentlichen Diskussion wird der Begriff meist anders benutzt, nämlich als Wachstum der Wirtschaft durch „grüne Investitionen“. Die Umstellung auf CO2-freie Produkte und Dienstleistungen wird als Motor der Wirtschaft insgesamt angesehen. Das führt zu Slogans wie „Schwarze können grünes Wachstum besser“.
An grünen Wachstum in diesem Sinn orientieren sich die Europäische Union, die Biden-Administration, und – wenigstens bis vor kurzem – auch die englische Regierung. Auch Norwegen und Kanada präsentieren sich gern als „grün“. Fragt man, ob dieses grüne Wachstum tatsächlich schon zu Emissionsminderungen geführt hat, dann stellt man fest, dass es zwar beschränkte Senkungen der Emissionen gegeben hat, dass aber alle Länder, in denen schon seit Jahren grüne Wachstumspolitik gepredigt wird, noch bei weitem zu viel CO2 emittieren – weitaus mehr, als es ihren eigenen politischen Absichten und Zusagen entspricht. Wo Emissionen massiv reduziert wurden oder relativ niedrig sind, liegt das entweder an der Deindustrialisierung von Regionen, wie beim britischen Bergbau oder auch in der Ex-DDR, oder an früheren Investionen in die Kernenergie wie in Frankreich. Bisher hat grünes Wachstum aber nirgendwo zu einer deutlichen Senkung der Emissionen geführt. Die USA werden in diesem Jahr voraussichtlich mehr Öl verbrennen als je zuvor in der Geschichte. Die reichen Industrieländer bleiben die Vorreiter bei weiteren Investitionen in fossile Energien.
Klimafinanzierung reicht bei weitem nicht aus
Die Strategie des grünen Wachstums hat bisher auch nicht ausreichend dazu beigetragen, die Emissionen im globalen Süden zu senken oder dort für ein nicht von fossilen Energien abhängiges Wachstum zu sorgen, wie wir es von den Industrieländern kennen. Die ohnehin bei weitem nicht ausreichenden Zusagen des globalen Nordens zur Klimafinanzierung sind nie eingehalten worden. Entschädigungen für Loss and damage, die die armen Länder dringend brauchen, um ihre Wirtschaft an die durch die globale Erhitzung verursachte Katastrophen anzupassen, werden bisher bei weitem nicht in ausreichenden Maße bezahlt – wenn überhaupt. Das für das Klima fast folgenlose grüne Wachstum in den Industrieländern ist verbunden mit braunem Wachstum in den ärmeren Staaten, in denen die Emissionen ganz besonders schnell ansteigen.
Green Growth nimmt den Fokus auf Regulierung
Niemand wird Gernot Wagner widersprechen, wenn er sagt, dass die grünen Bereiche der Wirtschaft schnell wachsen müssen, und dass damit enorme business oportunities verbunden sind. Aber für eine Senkung der Emissionen ist nicht allein dieses Wachstum erforderlich, sondern vor allem eine – und zwar rigorose – Einschränkung anderer Bereiche der Wirtschaft. Wenn es zu diesem schnellen Abbau von Emissionen nicht kommt, dann wird das grüne Wachstum im Sinne Wagners viel zu langsam sein, um uns auch nur in die Nähe der Pariser Klimaziele zu bringen. Diese Einschränkungen in anderen Wirtschaftsbereichen erfordern Steuerungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen, die bei weitem mehr in die Wirtschaft eingreifen, als wir es aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg kennen. Sie bedeuten einen Bruch mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik des letzten Jahrzehnte, aber auch mit der staatsinterventionistischen Wachstumspolitik der Phase nach dem zweiten Weltkrieg. Es mag tatsächlich eine semantische Frage sein, ob man diese Veränderungen Degrowth, Postgrowth oder anders nennt. Faktisch bedeuten sie in den reichen Ländern eine Abkehr vom Wachstum, wie wir es kennen
Climate Action muss auf ökologische und soziale Gerechtigkeit ausgerichtet sein
Der Aspekt der Climate Action, der bei Green Growth-Befürworter:innen vor allem fehlt und leider auch im Kommentar Gernot Wagners kaum angesprochen wird, ist der Aspekt der sozialen Gerechtigkeit bzw. der Klimagerechtigkeit. Nur durch wirksame Umverteilung lässt sich erreichen, dass die Mehrheit der Bevölkerung die nötigen Umstrukturierungen akzeptiert. Im Augenblick werden die meisten Emissionen von den Reichen verursacht. Eine Reduzierung der Emissionen bedeutet vor allem eine Veränderung des Konsum- und des Investitionsverhalten dieser Gruppen. CO2-Gerechtigkeit würde bedeuten, dass sich die Wirtschaft am Wohlergehen der bisher schwächeren Gruppen orientiert und diesen einen emissionsfreien Lebensstil ermöglicht. Die Parole Green Growth führt hier in die falsche Richtung. Genauso ist im globalen Maßstab eine Umverteilung von Investitionsmitteln von den reichen Ländern in die armen Länder erforderlich, die in den armen Ländern Wachstum bedeutet, aber auf Kosten potentiellen Wachstums in den reichen Ländern.
Wachstum als Wert gefährdet die Transformation
Im Augenblick kann man in vielen Ländern beobachten, dass die Wachstumsorientierung deutlich stärker ist als die Orientierung an einer grünen Transformation. Im Jahr 2023, in denen der Extremwetterereignisse weltweit zeigen, dass der Klimakollaps bereits begonnen hat, werden bereits beschlossene Klimaschutzmaßnahmen verwässert – in England, in Frankreich, in Deutschland und in Österreich. Im Zweifelsfall setzen die politischen Führungen dieser Länder in enger Absprache mit den Wirtschafts-Lobbies und weitgehend auch unterstützt von den Arbeitnehmer:innen auf Wachstum auf Kosten des Klimas und der Ökologie, und das heißt: auf Wachstum auf Kosten der nächsten Generationen und des globalen Südens. Wer Grünes Wachstum promotet, promotet auch das Wachstum als Wert und erschwert es, diese Wachstumsorientierung zu relativieren. Auch wachstumsorientierte grüne Politiker knicken schnell ein und verteidigen wie Robert Habeck sogar den Verzicht auf bereits beschlossene Regulierungen des Gebäude-Wärmeschutzes.
Bei den Transformationen, die nötig sind, wenn die Reduzierung der Emissionen tatsächlich die oberste Priorität haben soll, sind andere Erfolgskriterien wichtig als das Wachstum, vor allem als das Wachstum des Bruttosozialprodukts. Gesundheit der Bevölkerung, Versorgungssicherheit, Energiesicherheit, Ernährungssicherheit, Sicherheit vor den Katastrophen, die die globale Erhitzung auslöst – das sind Kriterien, die Vorrang haben müssen und auf die sich die Wirtschaft ausrichten muss. Bei einer Steuerung der Wirtschaft anhand dieser Kriterien kann man nicht mehr von einer Wachstumsökonomie sprechen, selbst wenn einzelne Bereiche wachsen. Der Ausdruck green growth verdeckt das.
Die planetaren Grenzen – auch für CO2 – werden auch ohne fossile Emissionen überschritten
Bekannte Erdsystem-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler haben in diesem September eine neue zusammenhängende Studie zu den planetaren Grenzen publiziert (Richardson et al., 2023; Erläuterung: Rockström, 2023). Zu den Ergebnissen gehört es, dass das 1,5 Grad-Ziel des Pariser Abkommens selbst dann gefährdet wäre, wenn die Emissionen in sehr kurzer Zeit auf Null reduziert würden. Die Überschreitung anderer planetarer Grenzen, vor allem bei der Landnutzung, führt ebenfalls zu einer Steigerung des Treibhausgas-Gehalts der Atmosphäre. Um die Klimakatastrophe zu begrenzen, brauchen wir deshalb eine Umstellung der Wirtschaft, die über die Veränderung des Energiesystems, die Steigerung der Energieeffizienz und die dazu nötigen Umverteilungsmaßnahmen hinausgehen. Sie betrifft alle Bereiche der Wirtschaft – und sie ist vor allem nötig, weil die Überschreitung der planetaren Grenzen für die Zivilisation auch unabhängig vom Klima eine existentielles Risiko bedeutet. Diese Transformation – u.a. eine Transformation der Agro-industrie, des Transport- und Verkehrswesens, der Bauindustrie und des Tourismus, die weit über den Verzicht auf CO2-Emissionen hinausgeht – lässt sich als grünes Wachstum nicht sinnvoll zusammenfassen. Wenn man unter grünem Wachstum vor allem eine Steigerung der Produktion erneuerbarer Energien und Effiziensteigerungen versteht, dann wird sie dadurch sogar gefährdet.
Konzentration auf billige Energien hat negative Nebeneffekte
Die bloße Steigerung der Energieproduktion, eventuell noch verbunden damit, dass die Energie auch billiger wird, führt in anderen Bereichen einer wachstumsorientierten Wirtschaft zu zusätzlicher Verschwendung. Der Ersatz der fossilen Energien durch eventuell noch billigere andere Energiequellen würde die ökologisch katastrophale Seite der energieintensiven Agroindustrie eher noch verstärken. Ähnlich ist es beim Verkehr. Wenn tatsächlich sehr viel mehr Strom zur Verfügung steht und Elektroautos in demselben Umfang fahren könnten wie wir es heute von den fossilen Autos kennen, wird ein großer Teil der negativen Effekte des Autoverkehrs – Versiegelung, Ressourcenverbrauch, Feinstaubproduktion durch Abrieb – verstärkt, statt gemindert. Überall sind qualitative Veränderungen nötig, nicht einfach der Austausch von einzelnen Komponenten der Wirtschaft.
Effizienz muss ökologisch, nicht finanziell gemessen werden
Steigerung der Effizienz kann zweierlei bedeuten: einerseits finanzielle Effizienz, also Einsatz von weniger Geld, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, andererseits ökologische Effizienz, also Einsatz von weniger Ressourcen und Erzeugung von weniger Abfallprodukten, um zu einem gewünschten Ergebnis zu kommen.
Wenn mit grünem Wachstum Steigerung der Effizienz gemeint sein soll, kann es nur um ökologische Effizienz gehen. Die Parole Green Growth Mindset legt es aber nahe, sie mit der finanziellen Effizienz zu verwechseln, als die sie von Green Growth-Vertreter:innen auch oft verkauft wird. Ohne eine ökologisch-soziale Bilanzierung ist Steigerung der Effizienz nur ein Motor potenziell schädlichen Wachstums z.B. duch Rebound-Effekte. Die Steigerung der Effizienz von Computer-Prozessoren z.B. reduziert den Energie- und Rohstoffverbrauch der Computer-Industrie nicht, sondern sie treibt ihn noch weiter an.
Qualitative Tranformations statt Green Growth
Um die Klimakatastrophe und die noch größeren Risiken durch den Verlust der Biodiversität zu begrenzen, ist eine Transformation der gesamten Wirtschaft nötig, eine generelle Orientierung des Wirtschaftens an den ökologischen Folgen und Kosten – die Gestaltung und Steuerung der Wirtschaft im Sinne der ecological economics. Das Schlagwort grünes Wachstum verdeckt, dass diese Transformation nötig ist. Er macht ihre Qualität und ihr Ausmaß unsichtbar. Wenn wir jetzt einen Green Growth Mindset fordern, dann erwecken wir den Eindruck, es ginge auch ohne diese Transformation und wir könnten weiter Wachstum so haben, wie wir es aus der Geschichte kennen.
Wachstum des Grünen ist nicht grünes Wachstum
Was Gernot Wagner mit Green Growth Mindset meint, werden alle teilen, die sich für eine schnelle Reduzierung der Emissionen engagieren. Es ist auch sinnvoll auf die Chancen der ökologischen Transformation für viele Bereiche der Wirtschaft hinzuweisen. Hier in Graz würde die lokale Wirtschaft sicher von einer solchen Transformation profitieren, auch wenn einige danach bei weitem weniger verdienen würden als heute. Dieses Wachstum des Grünen aber als grünes Wachstum zu deklarieren, stärkt die fossilen Systemerhalter und erweckt in der Bevölkerung und nicht zuletzt bei vielen in der medialen Öffentlichkeit den falschen Eindruck, es könnte in den nächsten Jahrzehnten im Prinzip ganz ähnlich weitergehen wie bisher.
Gernot Wagner zitiert Schupeters Formulierung von der kreativen Zerstörung. Die Orientierung am grünen Wachstum nimmt nicht ernst genug, was damit gemeint ist. Sie führt dazu, sich die zukünftige Wirtschaft weitgehend ähnlich vorzustellen wie die jetzige, eben nur mit einigen Komponenten, die ausgetauscht werden. Eine klimagerechte Wirtschaft muss sich aber qualitativ, in ihrem ganzen Bauplan, von der jetzigen Wirtschaft unterscheiden. Diese qualitive Veränderung und ihre Notwendigkeit machen wir unkenntlich, wenn wir vom Green Growth Mindset sprechen. Wachstumsorientierung ist ja gerade das Hauptcharakteristikum der Wirtschaft, die in die Klimakatastrophe geführt hat. Soweit ich es weiß, hat Schumpeter mit kreativer Zerstörung solche qualitativen Veränderungen gemeint. Auch in einer klimagerechten Wirtschaft wird es Wachstum geben. Dieses Wachstum muss aber mit anderen Metriken gemessen und gesteuert werden als der finanziell ausgedrückten Gesamtleistung der Wirtschaft und ihrer Teile.
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