Bruno Latour verweist auf Twitter auf einige Texte zu James Lovelock, der am 26. Juli, seinem hundertunddritten Geburtstag, gestorben ist: einen Nachruf in der Libération von Latour selbst und Sébastien Dutreuil (2022), eine populärwissenschaftliche Darstellung von Sébastien Dutreuil (2022) und einen Essay, in dem Latour seine Lovelock-Interpretation unterhaltsam, unprätentiös und fast beiläufig in einem Bericht über seinen ersten Besuch bei Lovelock vorstellt (Latour, 2018). Es geht in diesen Texten um das, was Lovelocks Gaia-Hypothese von Ansätzen unterscheidet, die ihr ähneln und zum Teil von ihr ausgelöst wurden. Latour und Dutreuil entwickelten ihre Interpretationen im Dialog mit Tim Lenton. Ihr gemeinsames Verständnis Lovelocks stellen Latour, Dutreuil und Lenton in einem ausführlichen Aufsatz in der Anthropocene Review dar (Lenton et al., 2020).

Die sequentielle Selektion ist einer der Mechanismen, die erklären können, wie es dem Leben gelang, genau die Bedingungen auf der Erde zu erzeugen, die es für seinen Fortbestand braucht. Dabei wird der Lebensprozess mehrfach neu gestartet, bis er in einer Weis abläuft, die über sehr lange Zeit bestehen bleiben kann. Video entnommen aus (Dyke & Lenton, 2018)

James Lovelock entdeckte, dass für einen Forscher auf einem anderen Planeten die Zusammensetzung der Erdatmosphäre ein eindeutiges Signal für die Existenz von Leben auf der Erde wäre. Das Leben auf der Erde hat diese Atmosphäre in einem Milliarden Jahre dauernden Prozess erzeugt, und es hat sich umgekehrt an sie angepasst. Aber nicht nur die Atmosphäre ist zugleich Produkt und Bedingung des Lebens. Auch die Zusammensetzung der festen Erdoberfläche und der Ozeane, möglicherweise sogar die Bildung der heutigen Kontinente sind nur durch das Leben zu erklären, und das Leben wäre ohne sie unmöglich. Mit Gaia ist die Gesamtheit der Bedingungen für das Leben gemeint: dazu gehören sowohl das Leben selbst wie die von ihm – mit der durch die Photosynthese ausgenutzten Energie der Sonne – umgeformte nichtlebendige Welt. Lovelock hat die Beziehungen zwischen dem Leben und seinen Bedingungen kybernetisch verstanden: Das Leben reguliert seine Bedingungen selbst, und zwar so fein, dass Eingriffe in diese Regulierung etwa durch die Verbrennung fossiler Energien dramatische Konsequenzen für das Leben haben können. Nur metaphorisch kann man dabei von der Erde als einem großen Organismus sprechen: Die Gaia-Hypothese setzt nicht eine verborgene Teleologie oder gar Absichten Gaias voraus.

Bruno Latour,
Bruno Latour

Bruno Latour, 2017. Für Latour ist James Lovelocks wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung vergleichbar mit der von Galileo Galilei. Lovelock habe eine Wissenschaft der Erdgebundenen begründet. Er hat immer wieder über Lovelock und die Gaia-Hypothese geschrieben, am ausführlichsten in “Face à Gaïa: huit conférences sur le nouveau régime climatique” (2015). Dazu in diesem Blog u.a.: Notizen zu Bruno Latour, Face à Gaïa: Wissenschaft auf dem Kriegspfad. Bild: Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bruno_Latour_in_Taiwan_P1250394.jpg

Gegenstand der Gaia-Hypothese ist nicht die Interaktion von Lebendigem und Nichtlebendigem im Allgemeinen, sondern die spezifische Geschichte des Lebens auf unserem Planeten. Lenton, Dutreuil und Latour schreiben, dass es bei Lovelock um Life (mit groß geschriebenem L) geht, nicht um life (mit kleingeschriebenem l). Gemeint ist die Gesamtheit aller Lebewesen, die einen gemeinsamen Ursprung haben und das bilden, was man in der Biologie eine clades nennt. Alles Leben auf der Erde heute gehört zu einer gemeinsamen clades – daraus ergibt sich aber nicht, dass in der Erdgeschichte nicht mehr als eine solche clades existiert hätten. Das Leben und die Erde könnten ganz anders aussehen – die Erde, die wir kennen, ist das Ergebnis der Koevolution des Planeten und dieser bestimmten clades, zu der wir gehören.

Sébastien Dutreuil
Sébastien Dutreuil

Sebastien Dutreuil hat das Werk James Lovelocks über Jahre erforscht und viel dazu publlizert. Er ist wie Timothy Lenton einer der Autoren des Aufsatzes “The emergence and evolution of Earth System Science” (Steffen et al., 2020). Dazu in diesem Blog: Ein Aufsatz zur Geschichte der Erdsystemwissenschaft—und Gaia als Horizont für mein Blog. Bild: https://centregranger.cnrs.fr/spip.php?article605

Durch die Konzentration auf die Besonderheiten und die Bedingungen des Lebens (im Sinne von Life mit großem L) unterscheidet sich Lovelocks Gaia-Hypothese von anderen Ansätzen oder Aussprägungen der Erdsystemwissenschaften, die sich generell mit den Beziehungen zwischen geologischen und biologischen Phänomenen beschäftigen (dem Geosphere-Projekt der NASA) oder spezifisch mit den Voraussetzungen und der möglichen Zukunft der menschlichen Zivilisation (Geosphere-Biosphere-Projekt). Der Unterschied besteht nicht darin, welche Tatsachen anerkannt und untersucht werden, sondern in der Fragestellung und im theoretischen Rahmen. Latour, Dutreuil und Lenton interessiert vor allem dieser theoretische Rahmen James Lovelocks, der die Grenzen der herkömmlichen wissenschaftlichen Disziplinen und ihrer grundlegenden Begriffe sprengt. Das gilt insbesondere für die Evolution. Sie ist in der Gaia-Konzeption nicht nur die Evolution von Individuen und Arten, sondern von Gesamtheiten, die eine gemeinsame spezifische Geschichte haben, die man nicht auf das Fortbestehen z.B. des Erbguts der beteiligen Arten reduzieren kann.

Tim Lenton
Tim Lenton

Tim Lenton ist einer der wichtigsten Vertreter der Erdsystemwissenschaften und hat sich – mehrfach zusammen mit Bruno Latour – mit ihren philosophischen Aspekten und Konsequenzen beschäftigt. Er ist einer der Autoren von “Trajectories of the Earth System in the Anthropone” (Steffen et al., 2018) und einiger daran anschließender Aufsätze. Siehe dazu hier im Blog Das Pariser Abkommen ist nicht genug—eine wissenschaftliche und eine risikoanalytische Argumentation für radikale Dekarbonisierung. Bild: University of Exeter https://www.exeter.ac.uk/research/tippingpoints/our-researchers/timlenton/

Latour, der Lovelock in seinem Essay als politischen Theoretiker bezeichnet, hebt nicht nur diese Vergeschichtlichung des Lebens hervor – die Erklärung von Zuständen durch eine Geschichte, die nicht alternativlos ist. Er fragt nach den Akteuren dieser Geschichten und bezieht sich dabei vor allem auf Lynn Margulis, die die Gaia-Hypothese gemeinsam mit Lovelock entwickelt hat. Auf Lynn Margulis geht das Konzept der Holobionten zurück, das sind Gesamtheiten von Individuen unterschiedlicher Arten (z.B. eines Menschen und seines Mikrobioms), die nur gemeinsam überleben können, und deren Entwicklung eine Koevolution ist, die nicht auf bestimmte Akteure ihrer Teile, z.B. das Erbgut der Individuen, reduzierbar ist. Alle historischen und politischen Akteure sind für Latour als Interpreten der Gaia-Hypothese nicht sauber als menschlich oder nichtmenschlich, lebendig oder anorganisch zu definieren. Es agieren immer Verbindungen von Akteuren, die ohne solche Verbindung gar keine Akteure wären, und Politik ist nötig, um diese Verbindungen zu knüpfen.

An vielen anderen Stellen spricht Latour von den terrestres, den Irdischen, die in einer spezifischen Situation an einem besonderen Ort und verknüpft mit ganz bestimmten biologischen, chemischen und anderen Bedingungen handeln. Für die Moderne ist Latour zufolge charakteristisch, dass das politische Handeln nur Menschen zugesprochen wird und alle übrigen Akteure zu Komponenten der Umwelt reduziert werden. Die Menschen begreifen sich damit gerade nicht als irdisch, sondern als besondere Wesen, die der Natur gegenüberstehen. Ohne das Respektieren nichtmenschlicher Akteure führt das moderne Konzept von Politik in den Untergang. Wir erkennen das gerade im Städtebau: Eine Stadtplanung, die Flüsse, Mikroorganismen und Pflanzen nicht als Akteure akzeptiert, etwa indem sie sich an einem Schwammstadt-Konzept orientiert und damit den Bereich der Planbarkeit einschränkt, kann katastrophale Folgen haben, wenn die nichtmenschlichen Akteure sich gegen die menschlichen durchsetzen.

So verstanden ist die Gaia-Hypothese nicht nur eine Aussage über das Leben auf der Erde als Ganzes. Sie ist eine Kritik an der Annahme, dass sich in geschichtlichen und politischen Prozessen zwischen biologischen und nichtbiologischen, menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren oder Faktoren überhistorisch unterscheiden läßt – dass sich also die Natur dem Menschen oder der Gesellschaft entgegensetzen lässt . Diese Unterscheidungen bestehen nicht einfach, sondern sie werden produziert und ausgehandelt. Eine Politik, die dieser Hypothese Rechnung trägt, orientiert sich nicht nur an der Stabilität des Erdsystems, sondern versteht sich als Agieren von Bündnissen lokalisierter menschlicher und nichtmenschlicher Akteure.

Nachweise

Dutreuil, S. (2022, March 22). Gaïa : enquête sur une révolution silencieuse. Pourlascience.fr; Pour la Science. https://www.pourlascience.fr/sd/histoire-sciences/https:https://www.pourlascience.fr/sd/histoire-sciences/gaia-enquete-sur-une-revolution-silencieuse-23567.php
Dyke, J., & Lenton, T. (2018, July 2). Scientists finally have an explanation for the “Gaia puzzle.” The Conversation. http://theconversation.com/scientists-finally-have-an-explanation-for-the-gaia-puzzle-99153
Latour, B. (2018, July 3). Bruno Latour Tracks Down Gaia. Los Angeles Review of Books. https://lareviewofbooks.org/article/bruno-latour-tracks-down-gaia/
Latour, B. (2015). Face à Gaïa: huit conférences sur le nouveau régime climatique. La Découverte : Les Empêcheurs de penser en rond. https://editionsladecouverte.fr/catalogue/index-Face____Ga__a-9782359251081.html
Latour, B., & Dutreuil, S. (2022, August 1). James Lovelock, le premier des «Gaïens». Libération. https://www.liberation.fr/idees-et-debats/james-lovelock-le-premier-des-gaiens-20220801_5LMFHVU5R5BIPHGLNZ6XWA5W4U/
Lenton, T. M., Dutreuil, S., & Latour, B. (2020). Life on Earth is hard to spot. The Anthropocene Review, 7(3), 248–272. https://doi.org/10.1177/2053019620918939
Steffen, W., Richardson, K., Rockström, J., Schellnhuber, H. J., Dube, O. P., Dutreuil, S., Lenton, T. M., & Lubchenco, J. (2020). The emergence and evolution of Earth System Science. Nature Reviews Earth & Environment, 1(1), 54–63. https://doi.org/10.1038/s43017-019-0005-6
Steffen, W., Rockström, J., Richardson, K., Lenton, T. M., Folke, C., Liverman, D., Summerhayes, C. P., Barnosky, A. D., Cornell, S. E., Crucifix, M., Donges, J. F., Fetzer, I., Lade, S. J., Scheffer, M., Winkelmann, R., & Schellnhuber, H. J. (2018). Trajectories of the Earth System in the Anthropocene. Proceedings of the National Academy of Sciences, 115(33), 8252–8259. https://doi.org/10.1073/pnas.1810141115

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