Ich möchte kurz auf die Antrittsvorlesung von Richard Rogers hinweisen, der an der Universität Amsterdam den Lehrstuhl für New Media & Digital Culture innehat. Ich habe den Text von 2009 (The End of the Virtual – Digital Methods) erst jetzt gelesen; Latour verweist in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft darauf.

Rogers Vorlesung ist ein zentraler Text zur Methodik der Web Science und der aktuellen Humanwissenschaft. Nach der ersten Lektüre möchte ich zwei Punkte hervorheben:

  1. Die Zeit des Cyberspace oder des Virtuellen ist vorbei. Das Internet und das Web sind nicht mehr Zonen neben einer analogen oder realen Welt, sie gehören einfach zur Wirklichkeit. Zu ihnen gehören allerdings Objekte eigener Art, wie Links, Websites und Suchmaschinen.
  2. In einer ersten Phase wurden Methoden der Humanwissenschaften auf das Web übertragen. Rogers spricht von Digitalisierung. In einer zweiten Phase kann man das Web und originäre Web-Tools nutzen, um Erkenntnisse über das Soziale zu erhalten. Rogers stellte einige Beispiele für solche nativ digitalen Methoden vor. Diese Methoden sind, wenigstens teilweise, von den Such- und Monitoring-Techniken abgeleitet, die im Web entwickelt werden.

Was könnte das für ein Thema wie Web Literacy bedeuten? Zunächst wohl: Nicht so sehr zu fragen, welche spezifischen Kompetenzen man für das Web braucht, sondern welche Kompetenzen sich im Web entwickeln. Also z.B. nicht als erstes die Frage zu stellen: Was muss jemand können, um richtig zu twittern? Sondern: Was kann jemand, der twittert? Welcher spezifischen Fähigkeiten oder Literacies hat sie oder er? Bei der ersten Fragestellung geht es um eine Übertragung von Kompetenzen in das Web, bei der zweiten um originäre Kompetenzen—was nicht heisst, dass sie keine Beziehungen zu Kompetenzen und Fähigkeiten in der vor- oder außerdigitalen Welt haben.

Bezogen auf den Journalismus oder die PR würde das heißen: Es geht nicht so sehr darum, journalistische oder PR-Kompetenzen in das Web zu übertragen als darum herauszufinden, welche spezifischen Kompetenzen sich im Web entwickeln und dort gefordert sind. In diesem Zusammenhang fällt mir der Thomas Pleils Unterscheidung von digitalisierter PR und von Online-PR ein. Webkompetenzen sind nicht digitalisierte Kompetenzen, sondern webspezifische. Nur so lassen sie sich vermutlich erfolgreich unterrichten.

2 Kommentare zu “Web Literacy nach dem "End of the Virtual"

  1. interessant fand ich den hinweis auf die untersuchung über die entwicklung der sprache in rechten bzw. hass-gruppen in den niederlanden auf der grundlage der analyse von websites. das web als material zur erforschung sozialer wirklichkeit.
    zu deinem letzten absatz aus dem blickwinkel der konsum-kompetenz: charlie bit my finger

    … verweisen die 400 mio views auf fehlende medienkompetenz der leute, die ihre zeit mit einem unsinnigen video verplempern (400 mio views = 720 menschen, die ein jahr lang nur auf dieses video starren).
    auf der producer-seite: müssen wir lernen, videos zu produzieren, die unter den related videos solcher erfolgreicher videos aufscheinen, damit wir von deren popularität mitnaschen?
    thx for your effort, uns mit theorie zu versorgen!
    lg karl

  2. Spannende Überlegungen! Mein erstes Gefühl: Ja, wir müssen mehr darauf achten, welche Kompetenzen sich im Web entwickeln. Twitter ist da sicher ein prima Beispiel.
    Geht es um Web Literacy, bleibt aber wohl die Aufgabe, Leute mit unterschiedlichstem Hintergrund und verschiedenen (bereits vorhandenen) Kompetenzbündeln mitzunehmen. Hier sollte dann vermutlich eine Art Mapping stattfinden, damit Anschlussfähigkeiten zwischen dem, was im Netz entsteht und jenem, was bestimmte Leute mitbringen, entstehen kann, vermute ich.

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