Das erste Buch, das ich in diesem Jahr gelesen habe, war eine Weihnachtsüberraschung — Michel Serres: Aufklärungen. Gespräche mit Bruno Latour.


Cover von Michel Serres: Aufklärungen
Cover von Michel Serres: „Aufklärungen“

Das Thema der Philosophie von Michel Serres ist die Kommunikation, und um Kommunikation geht es auch in diesen Dialogen Serres‘ mit dem Soziologen Bruno Latour fast überall. Die Kommunikation, wie sie Serres begreift, bildet etwas wie einen virtuellen Raum mit eigenen Regeln, anderen Regeln als denen der statischen Objekte und Wesenheiten, die Serres zufolge in der europäischen Philosophie immer die Hauptrolle gespielt haben.

Diese Gespräche sind schon über 15 Jahre alt, sie wurden geführt, bevor das Internet zu einer der wichtigsten Zonen der Kommunikation wurde. Aber weder Serres noch Latour dürften von der Entwicklung des Webs zu sehr überrascht worden sein. Serres sagt zu Bruno Latour, dessen Soziologie der Übersetzung Serres‘ Philosophie der Kommunikation viel verdankt:

Hermes, indem er sich erneuert, wird immerzu unser neuer Gott, seit wir Menschen sind, nicht nur der unserer Ideen oder Verhaltensweisen, unserer theoretischen Abstraktionen, sondern auch der unsererer Arbeiten, unserer Techniken, unserer Erfahrungen, unserere Experimentalwissenschaften, ja, unserer Laboratorien, wo, Sie selbst haben es gezeigt, alles entlang komplexer Beziehungsgeflechte zwischen den Botschaften und den Personen funktioniert, der Gott unserer Biologie, welche die Gehirn- und Genbotschaften beschreibt, der der Information, der des schnellen Finanzwesens und des volatilen Geldes, des Handels, der Information, der Medien, die eine dritte Realität produzieren, unabhängig von der, die wir für wirklich halten, der Beziehungen zwischen Recht und Wissenschaft… Soweit ich weiß, versuchen Sie, wie ich, eine Philosophie zu konstruieren, die mit dieser neuen Welt kompatibel ist. Nicht um sie zu imitieren, nicht um sie zu rechtfertigen, sondern um sie zu begreifen und, vielleicht verzweifelt, zu steuern zu versuchen. Zum ersten Mal in der Geschichte denken wir, dass sie wirklich von uns abhängt.

Ich habe bisher nie einen Zugang zu den Texten von Serres gefunden. Er selbst bemüht sich nur wenig, den Eingang in sein Werk zu erleichtern. Seine Sprache wirkt auf den Außenstehenden oft steil, sein Pathos überfordert viele Leser. In den Dialogen dieses Buches verschweigt Bruno Latour solche Zugangsschwierigkeiten nicht. Er fragt Serres nach ihnen und hält sie ihm gelegentlich vor; vermutlich ist er Serres durch seine bohrenden Fragen und seinen nur selten feierlichen, eher angelsächsisch nüchternen Stil ziemlich auf die Nerven gefallen. Jedenfalls zeichen Latour und Serres hier zusammen ein philosophisches Porträt oder Selbstporträt, das Lust macht, die Werke Serres‘ endlich zu lesen.

Helfen Texte wie dieser dabei, das Web oder die Kommunikation im Web besser zu verstehen? Ich kann die Frage nicht — ich hoffe: noch nicht — beantworten. Vielleicht ist ihre erste Wirkung, dass sie starr gewordene Konzepte der Kommunikation verflüssigen, dass sie zum Beispiel zeigen, dass Kommunikation weder als Technik, als Mittel zu einem Zweck, noch als materielles, natürliches Phänomen befriedigend beschrieben werden kann. Als historisches Dokument gelesen zeigt dieser Text, dass das Web nicht vom Himmel gefallen ist, dass in den 80er und 90er Jahren philosophische Ideen formuliert wurden, die mit der Entwicklung des Webs kommunizieren, ohne kausal mit ihr zusammenzuhängen.

Update, 3.6.2019: Bild ersetzt, da die ursprüngliche URL nicht mehr funktioniert hat. Serres ist am 1. Juni gestorben.

2 Kommentare zu “Aufklärungen: eine Einführung in das Werk Michel Serres‘

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