Durch Zufall bin ich auf den Aufsatz Nationalism and Climate Change von Daniele Conversi gestoßen (Conversi, 2023). Conversi beschäftigt sich in diesem Review-Artikel vor allem mit dem Nationalismus als Hindernis für den Kampf gegen das, was er Anthropozän-Krise nennt. Er teilt die Befürchtung, dass die Menschheit durch diese Krise „aus der Geschichte vertrieben werden könnten“. Er verweist auf sehr viel Literatur, u.a. auf das Buch Overheating (Eriksen, 2016) des verstorbenen Thomas Hylland Eriksen, auf Ernest Gellner, Dipesh Chakrabarty und Prasenjit Duara. Ausführlich stellt er den „Ressourcen-Nationalismus“ (Resource Nationalism) der Petrostaaten (mit vielen Verweisen, u.a. zur OPEC) und die Verbindung von Nationalismus und Klimaleugnung dar. Am Ende seines vielschichtigen Aufsatzes fragt Conversi:
As climate change relentlessly advances across the planet, we have to face a central question: is there a real risk that nationalism may become the default response, so that, instead of international collaboration, unprecedented acrimony and conflict becomes the automatic setting and response? [p. 219]
Ich habe in letzter Zeit mehrfach auf Texte zum Faschismus hingewiesen, aber das Thema des Nationalismus nicht beachtet. Dabei ist der Nationalismus das, was die verschiedenen sogenannten rechtspopulistischen Bewegungen miteinander verbindet. Der Ausdruck Ressourcen-Nationalismus trifft die „realpolitischen“ wie die ideologischen Motive der Antiklimapolitik der Rechten gut. Er erfasst aber auch, wie die eigentlich nichtnationalistischen Politiker Merz, Macron und Starmer das Festhalten an fossilen und nuklearen Energien begründen (mit den Interessen der jeweils nationalen Industrie) und damit eine Allianz mit der Rechten eingehen.
Die für mich plausibelsten Erklärungen für die nicht ausreichende Klimapolitik seit 2015 und vor allem für den climate backlash der letzten Jahre sind geopolitisch, sie beziehen sich auf die Verbindung von nationalstaatlicher und wirtschaftlicher Macht in einer bestimmten geografischen Situation. Auf die Bedeutung der Geopolitik für die Klimapolitik bin ich zuerst durch Pierre Charbonnier aufmerksam geworden. Die überzeugendsten aktuellen Aussagen zur politischen Wirkung von geopolitischen constraints habe ich bei Helen Thompson gefunden. Zur Erklärung des Handelns wichtiger staatlicher Akteure durch ihre geopolitische Situation passt Conversis Darstellung der Beziehungen von Nationalismus und Klimakrise gut, weil er die Besonderheiten einer Option, nicht nur einer Interessenlage herausarbeitet: Nationalismus ist eine klare Gegenposition zur Orientierung an übernationaler Kooperation, wie sie 2015 wenigstens verbal noch selbstverständlich schien.
Das Auseinanderbrechen der sogenannten regelbasierten Weltordung – und damit der Selbstverständlichkeit der internationalen Kooperation – nach 2015 ähnelt den Prozessen, die Karl Polanyi in The Great Transformation (Polanyi, 2001) als Zerbrechen der Utopie der sich selbst regulierenden Märkte beschrieben hat. Im Anschluss an Polanyi lässt sich die These formulieren, dass sich als Reaktion auf Folgen der Globalisierung (z.B. die Exportpolitik Chinas, die Deindustrialisierung vieler Gebiete in den USA und in Europa, die Migration billiger Arbeitskräfte) in den letzten Jahren – wie vor dem ersten und dem zweiten Weltkrieg – immer mehr eine extrem nationalistische Politik mit katastrophalen Konsequenzen durchsetzt. Die Klimakatastrophe und das (verdrängte oder verleugnete) Wissen um die Klimakatastrophe befeuern diese Politik. Der ausgesprochene oder unausgesprochene Nationalismus verschafft der Anti-Klimapolitik die Legitimation und begründet die autoritäre Unterdrückung von Gegnern (Trump spricht offen von enemies of the people).
Dieser Nationalismus stellt sich als Gegenbewegung zum „Globalismus“ dar, hat aber oft selbst einen globalen Anspruch. Er ersetzt das Ziel der Dominanz auf dem Weltmarkt durch einen auf militärische Stärke und ökonomische Erpressung gestützten Imperialismus, wie er inzwischen für die Politik der USA wie Russlands charakteristisch ist. (Die Nationalisten in kleinen Ländern wie Österreich und Ungarn können nur darauf hinarbeiten Vasallenstaaten der Imperien zu beherrschen.)
Ich habe Nationalismus bisher vor allem als ein rückwärtsgewandtes Phänomen angesehen. Der Aufsatz von Conversi ist für mich eine Anregung, ihn nicht länger zu unterschätzen und vor allem die Verbindung von Geopolitik und Nationalismus ernst zu nehmen.