Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen führt in das Werk Gabriel Tardes wie in die Soziologie Bruno Latours ein. Es zeigt den französischen Klassiker der Soziologie als einen Vordenker aktueller sozialwissenschaftlicher Theorien, dessen vor über hundert Jahren formulierte Thesen so unterschiedliche Themen wie Wissensgesellschaft und virales Marketing berühren.
Die Konversation ist ein Thema, das den Ökonomen ganz besonders interessiert. Es gibt keine ökonomische Beziehung zwischen Menschen, die nicht zunächst begleitet wäre von Worten, gesprochenen Worten oder geschriebenen, gedruckten, telegrafierten, telefonierten. Selbst wenn ein Reisender irgendwelche Produkte mit Inselbewohnern austauscht, deren Sprache er nicht kennt, so findet dieser Warenaustausch nur mit Hilfe von Zeichen und Gesten statt, welche eine stumme Sprache sind. Und wie sind im übrigen diese Bedürfnisse der Produktion und der Konsumtion, des Verkaufs und des Kaufs entstanden, die durch den dank Konversationen vollbrachten Austausch gegenseitig befriedigt werden? Meist wiederum nur dank Konversationen, die die Idee eines neuen zu kaufenden oder zu produzierenden Produkts von einem Gesprächsteilnehmer zu einem anderen verbreitet haben und mit dieser Idee das Vertrauen in die Qualitäten dieses Produkts oder seinen baldigen Absatz, schließlich den Wunsch, es zu komsumieren oder zu fabrizieren. Würde das Publikum niemals plaudern, so wäre die Auslage der Waren fast stets verlorene Mühe und die hundert Millionen Trompeten der Reklame würden vergeblich erschallen. Wenn in Paris nur für acht Tage die Konversationen verstummten, so würde man bald die eigenartige Verringerung der Anzahl der Käufe in den Läden bemerken. Es gibt demnach keinen mächtigeren Chef der Konsumtion und in der Folge keinen mächtigeren. wenn auch indirekten Produktionsfaktor als das Geplauder der Individuen in ihren Mußestunden [Gabriel Tarde, Psychologie économique. Tome premier. Paris: Félix Alcan, Éditeur, 1902, S. 195, zitiert nach S. 70f der Übersetzung im hier besprochenen Buch].
Dieses Zitat ist von 1902! Es nimmt die Essenz des Cluetrain Manifests vorweg. Ich habe es in Bruno Latours und Vincent Lepinays hervorragender Einleitung in Tardes Psychologie économique gefunden. So merkwürdig es klingen mag: Tardes Werk, am Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben, steht für einen Paradigmenwechsel am Ende des 20. Jahrhunderts: Weg vom homo oeconomicus, weg von der statistischen Betrachtung von Märkten, die die Kommunikation ausblendet, hin zu einem Verständnis des Sozialen, für das Wissen, Emergenz und virale Verbreitung von Innovationen Schlüsselphänomene sind, und das weder die Wirtschaft noch die Gesellschaft als quasinatürliche Regionen oder Systeme voraussetzt.
Differenz und Wiederholung
Tardes Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungen ist evolutionistisch, aber nicht sozialdarwinistisch im Sinne eines survival of the fittest.
Vergessen wir nicht das Wort Tardes, das sich gegen jede Philosophie der Identität wie des Widerspruchs richtet: „Existieren heisst differieren“ [S. 51; Tarde wird zitiert nach Monadologie und Soziologie, S. 71].
Individuen, kleine Einheiten (auch Individuen sind bei Tarde zusammengesetzt, keine letzten Einheiten oder Atome des Sozialen), unterscheiden sich von anderen und ihrer Umwelt, variieren, und diese Variationen können sich ausbreiten, von der Umwelt übernommen werden oder nicht.
Keine soziale Entität ist stabil, sondern jede kann sich verändern, und diese Veränderungen verändern wiederum ihr Verhältnis zur Umwelt (wobei Tarde eine Polarität von Opposition und Kooperation annimmt) und sie können die Umwelt selbst verändern.
Latour und Lépinay weisen darauf hin wie wichtig die Begriffe Differenz und Wiederholung für den französischen Philosophen Gilles Deleuze waren, der sich wohl selbst auch auf Tarde berief. Ich verstehe diese Gedanken zunächst als Hinweise darauf, wie unstabil jeder Begriff ist, der sich auf soziale Phänomene bezieht—nicht weil sie zu komplex oder vergänglich wären, sondern weil sie immer wieder neu erfunden werden, um überhaupt zu existieren, ob es sich dabei um eine Unternehmen oder eine Institution handelt oder um eine Phänomen wie das Web 2.0 oder die sozialen Medien, die ja nie einfach da sind sondern immer wieder gemacht und das heisst neu gemacht werden müssen.
Selbst eine sehr repetitive Arbeit erfordert, wie man weiß, das das ständige Hervorbringen von winzigen Innovationen, die zirkulieren und in ebensovielen Auflösungen vorgängiger Oppositionen bestehen [S. 76].
Wissen und Innovation
Überall in Latours und Lépinays Tarde-Einleitung hat man den Eindruck, das Tarde Konzepte und Ideologien vorwegnimmt, die von einer postindustriellen Gesellschaft und einem Abschied von der Moderne ausgehen, für die die identische Wiederholung, die industrielle Reproduktion vielleicht die wichtigste Metapher ist. Wobei anzumerken ist, dass Bruno Latour die Vorstellung von einer Moderne, die sich radikal von allen vorausgehenden und anderen Gesellschaften unterscheidet, immer, auch in diesem Buch, angegriffen hat.
Man kann eine Gesellschaft „ökonimisieren“, aber man kann sie weder rationalisieren noch modernisieren [S. 88.]
Am greifbarsten ist die Aktualität Tardes für mich in den Passagen über Wissen und Kapital. Für Tarde besteht das entscheidende Kapital im Wissen, nicht in einer materiellen Infrastruktur. Man braucht, schreibt er, um eine Lokomotive zu bauen, vor allem den Plan einer Lokomotive, alles andere sei sekundär. Tarde verwendet das Bild von Keim und Keimblatt: Das Wissen sei der Keim, Geld und gebundenes Kapital hätten nur die Funktion von Keimblättern, die ohne Wissen funktionslos sind.
Für ihn besteht … das oberste Gesetz nicht in der Negation … sondern in der Invention, der Erfindung, die, sobald sie einmal wiederholt worden ist, unzählige Kämpfe auslöst, aus denen man nur durch andere Erfindungen herausfindet [S. 51].
Wenn man von der Erfindung und vom Wissen statt vom materiellen Kapital ausgeht, um soziale und ökonomische Phänomene zu beschreiben, werden andere Konzepte Tardes wohl noch verständlicher, vor allem die Bedeutung der Kooperation. Eine Wissensökonomie kann nicht allein auf Wettbewerb basieren (weshalb Intellectual Property Rights auch nur Sinn haben, wo sie die Erzeugung und Verbreitung von Wissen fördern).
Es braucht Vertrauen, damit die ersten Transaktionen das Licht der Welt erblicken; man muss das krampfhafte Festhalten des Homo oeconomicus an der Verlockung des Gewinns lockern, denn es sind gleichermaßen Leidenschaft wie Risikobereitschaft erforderlich, um die Wirtschaft durch die Emergenz kleiner Differenzen auf neue Wege zu bieten [S. 56f].
Während der Lektüre habe ich mich gefragt, ob nicht die Quasi-Monopole in der Computer-Industrie und im Web (Google, Facebook, Apple und tutti quanti) der These vom Ende der industriellen Wirtschaft widersprechen. Ich glaube, dass das eine Täuschung ist. Tatsächlich sind z.B. Computer eher ein Beispiel für mass customization, wenn man von der Software und ihrem tatsächlichen Gebrauch ausgeht. Sie werden, anders als z.B. Fernseh- und Radiogeräte, weitgehend von ihren Benutzern konfiguriert. Auch Facebook und Google stellen nur die Basis für Useraktionen bzw. Netzwerke von Benutzern zur Verfügung.
Ökonomismus und Liberalismus
Das Leitmotiv von Latours und Lépinays Tarde-Einleitung ist: Es gibt weder in der Ökonomie noch in Gesellschaft eine prästabilierte Harmonie. Es gibt keine Ebene des rein Wirtschaftlichen die sich isoliert verstehen ließe, und es gibt deshalb auch nicht eine ökonomische Basis der Gesellschaft im Marxschen Sinn. Tardes Anthropologie sei
nichts fremder als die Vorstellung ökonomischer Agenten, die von der sozialen Welt abgeschnitten wären und klar abgrenzbare Kalküle anstellten [S. 17].
Wissenschaftlich ist es gefährlich, ein rein ökonimisches Agieren in der Realität statt nur in den eigenen Modellen wiederfinden zu wollen. Allerdings kann die Wissenschaft dazu beitragen, ein solches Handeln in der Wirklichkeit durchzusetzen:
Um den starken Ausdruck von Michel Callon aufzugreifen: Es ist die Disziplin Ökonomik, welche die Sache Ökonomie formatiert und performiert; „without economics, no economy“ [S. 24; zitiert wird ohne Seitenausgabe aus Callon (Hg.): Laws of the Markets].
Es gibt aber auch keine gesellschaftliche Determination oder eine gesellschaftliche Einbettung der Wirtschaft, weil die Gesellschaft gar nicht existiert, sondern nur das, was Latour als Kollektive bezeichnet, konkrete Assoziationen menschlicher und auch nichtmenschlicher Akteure (gerade, um ein drastisches Beispiel zu nehmen, z.B. des Kernkraftwerks in Fukushima, das man nicht auf eine rein soziale Kausalität reduzieren kann).
Die ganze Soziologie, die ganze Metaphysik Tardes lehnen sich auf gegen das, was ein unausrottbares Vorurteil zu sein scheint, sobald man sich ökonomischen Fragen zuwendet: Es gäbe irgendwo, im Markt, in der Natur, im Staat, einen Mechanismus der Harmonisierung, dem man sich überlassen könnte, um nicht mehr Politik machen zu müssen [S. 95].
Ökonomistische Gesellschaftsmodelle, die davon ausgehen, dass es rein wirtschaftliche Gesetze gäbe, beruhen für Latour/Lépinay auf dem Glauben an eine Vorsehung, und zwar sowohl, wenn sie annehmen, dass der Markt schon für sich selbst sorgen werde—dann setzen sie eine unsichtbare Hand im Sinne von Adam Smith voraus—wie wenn sie die gesamte Gesellschaft über die Ökonomie befreien wollen—und von einer teleologischen Ausrichtung der Geschichte an einer nicht mehr kapitalistischen Gesellschaft ausgehen. Für Latour und Lépinay kann sich das politische Handeln weder auf wissenschaftliche Einsicht in zwingende ökonomische Entwicklungen stützen, noch kann es sich darauf verlassen, dass optimale oder auch nur wünschbare Ergebnisse herauskommen, wenn der Markt oder die Wirtschaft sich selbst überlassen bleiben.
Man kann aus dieser strikt anti-deterministischen Argumentation liberale politische Konsequenzen ziehen—die Autoren selbst legen das nahe. Diese Konsequenzen unterscheiden sich aber deutlich von neoliberalen Positionen im Sinne eines Marktradikalismus. Ich habe mich während der Lektüre gefragt, ob der Neoliberalismus nicht eng mit sozialdarwinistischen Positionen verwandt ist, die auch einen evolutionären Ansatz teleologisch missverstehen, so als sei das Ergebnis von Entwicklungen vorherbestimmt oder durch die Evolution gerechtfertigt. In jedem Fall ergibt sich aus der Position Latours und Lépinays sowohl ein Freiraum für genuin politisches Handeln (bei dem die politisch Handelnden nicht nur Agenten von Entwicklungen außerhalb von ihnen sind) wie die Notwendigkeit, Politik unabhängig von den so genannten ökonomischen oder politischen Notwendigkeiten immer wieder neu zu definieren.