In den vergangenen Tagen habe ich einen Aufsatz von Giorgos Kallis über Joan Martínez-Alier, Degrowth und die Barcelona-Schule gelesen (Kallis, 2023) sowie angeregt dadurch Passagen von Joan Martínez-Alier selbst (2022; 1990). Degrowth und zentrale Ideen von Kallis und Martínez-Alier sind mir nicht neu. Ich verstehe diese Konzepte jetzt aber anders und hoffentlich etwas besser. Mir wird klarer, was das Besonderer der „Barcelona-Konzeption“ von Degrowth ist, und worin sie sich von anderen Antworten auf die Klimakrise und die damit verbundenen Krisen unterscheidet.

Degrowth ist etwas anderes als Kapitalismus oder Sozialismus ohne Wachstum. Es geht nicht einfach darum, aus einem vorhandenen oder bekannten Wirtschaftssystem einen Faktor, nämlich das Wachstum, herauszunehmen und mit den übrigen Komponenten weiterzuarbeiten. Bei Degrowth wird die Wirtschaft anders verstanden als in den vorhandenen Wirtschaftssystemen. Kallis’ Aufsatz führt in dieses andere Verständnis ein. Es geht auf die „ökologische Ökonomie“ (ecological economics) zurück. Die ökologische Ökonomie wird bei Martínez-Alier zur politischen Ökologie erweitert. Die ökologische Ökonomie versteht Wirtschaft als Transformation von Materie und Energie, als Stoffwechsel mit der Natur, sodass Aussagen über die Wirtschaft nicht unabhängig von Aussagen über die Natur formuliert werden können. Die politische Ökologie geht davon aus, dass wirtschaftliche Parameter nicht unabhängig von politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen festgelegt werden können, dass es also keine von Politik und Macht unabhängige Sphäre der Wirtschaft geben kann.

Ich versuche, die zentralen Elemente dieser Degrowth-Theorie thesenartig zu formulieren – auch als Orientierung für die weitere Lektüre:

  1. Degrowth ist ein Konzept der politischen Ökonomie – ein politisches, nicht einfach ein wirtschaftliches oder ökologisches Konzept.
  2. Die ökologischen Krisen – vor allem die Klimakrise und die Biodiversitätskrise – erfordern ethisch-politische Antworten: andere Beziehungen und Machtverhältnisse zwischen den Betroffenen. Diese veränderten Beziehungen lassen sich nicht aus ökonomischen Analysen (z.B. über die „Kosten des Klimawandels“) oder ökologischen Erkenntnissen (etwa über die planetaren Grenzen) ableiten.
  3. Zu erreichen sind die veränderten Beziehungen nur über Kämpfe oder Konflikte, die die bestehenden Machtbeziehungen in Frage stellen und neu bestimmen. Erkenntnisse über die ökologischen Krisen und die Notwendigkeit neuer Machtverhältnisse und politisches Handeln für solche Machtverhältnisse sind nicht unabhängig voneinander. Zur ökologischen Ökonomie und der sich aus ihr ergebenden politischen Ökologie gehören deshalb auch die aktive Beteiligung an Konflikten, konkret die Solidarisierung mit den Menschen, die jetzt und in Zukunft von den ökologisch-sozialen Folgen der herrschenden Machtverhältnisse besonderes betroffen sind und sich aktiv gegen sie engagieren.
  4. Degrowth bedeutet: Energie- und Materialverbrauch überall da planmäßig zu reduzieren, wo der aktuelle und ein noch gesteigerter zukünftiger Verbrauch soziale und ökologische Krisen verursacht. Die Degrowth-Bewegung stimmt mit den Vertreter:innen des „grünen Wachstums“ darin überein, dass diese Entmaterialisierung nötig ist. Sie hält es aber für eine Illusion, die Entmaterialisierung im erforderlichen Ausmaß und erforderlichen Tempo dadurch zu erreichen, dass vorhandene wirtschaftliche Faktoren mit negativen ökologischen Konsequenzen (z.B. fossile Energien) durch andere ersetzt werden, die ökologisch und sozial unproblematisch sind.
  5. Die politische Ökologie und die Degrowth-Bewegung haben viele Gemeinsamkeiten mit im weitesten Sinn marxistischen Positionen zum Kapitalismus. Zentrale Ansätze unterscheiden sie aber davon. Sie trennen die „natürliche“ oder biophysikalische Ebene nicht von der sozialen, benötigen kein Fortschrittskonzept und keine bestimmte Ontologie der sozialen Verhältnisse (etwa einen vor allem an Eigentumsverhältnissen orientierten Klassenbegriff), sind offen für unterschiedliche Organisationsformen einer ökologischen Wirtschaft und haben einen ethischen, auf Gerechtigkeit ausgerichteten Kern, ohne sozialen Fortschritt mit ethischen Zielen identifizieren zu müssen.

Politische Ökologie und Degrowth sind Konzepte auf verschiedenen Ebenen, die ich hier nicht unterschieden habe. Mich interessiert vor allem, wie man in der Klimabewegung und bei der Analyse der Konflikte über Klima und Energie mit diesen Konzepten argumentieren kann. Die politische Ökologie lässt erkennen, welche Zwänge dazu führen, dass mitten in der sich verschärfenden Klimakrise weiter in fossile Brennstoffe und Intensivlandwirtschaft investiert wird. Sie macht auch klar, dass die Verschiebung von Problemen auf die Ärmsten und Schwächsten einerseits und zukünftige Generationen andererseits zur Struktur des Wachstums-Kapitalismus gehört. Degrowth ist nicht nur eine allgemeine Forderung. Der Begriff steht auch für konkrete Alternativen z.B. in der Landwirtschaft, in der Architektur oder auch in der Software-Entwicklung. Diese Alternativen werden sich aber nicht durchsetzen, wenn nicht die Machtverhältnisse verändert werden, und zwar auf allen politisch-territorialen Ebenen, angefangen mit Städten und Dörfern.

Nachweise

Kallis, G. (2023). Degrowth and the Barcelona School. In S. Villamayor-Tomas & R. Muradian (Eds.), The Barcelona School of Ecological Economics and Political Ecology: A Companion in Honour of Joan Martinez-Alier (pp. 83–90). Springer International Publishing. https://doi.org/10.1007/978-3-031-22566-6_8
Martinez-Alier, J. (2022). Circularity, entropy, ecological conflicts and LFFU. Local Environment, 27(10-11), 1182–1207. https://doi.org/10.1080/13549839.2021.1983795
Martínez-Alier, J. M. (1990). Ecological Economics: energy, environment and society. Basil Blackwell. https://archive.org/details/ecologicaleconom0000mart

11 Kommentare zu “Giorgos Kallis über Joan Martínez-Alier, Degrowth und die Barcelona-Schule

  1. @heinz@graz.social zu „3. Zu erreichen sind die veränderten Beziehungen nur über Kämpfe oder Konflikte, die die bestehenden Machtbeziehungen in Frage stellen und neu bestimmen“Die Historie hat gezeigt, dass die Hyperreichen bei so etwas gerne bereit sind, ein Land in einen Krieg zu stürzen, bevor sie ihre Macht aufgeben. Sieht man ja sogar aktuell, wo die BILD und die CXU versuchen, die AfD als normale Partei im Narrativ zu verankern.

  2. @don Das glaube ich auch nicht. Aber ich würde nicht ausschließen, dass sich in ärmeren Ländern mehr tut, und auch in den reichen Ländern gibt es aktive Gruppen. Ich gebe die Hoffnung nicht ganz auf, dass es zu Entwicklungen wie in Kim Stanley Robinsons „Ministry for the Future“ kommt, wenn die Katastrophen immer schlimmer werden.

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