Wenn ich es richtig sehe, gibt es noch nicht viele ethnomethodologische Untersuchungen zu Hypertexten und zur Webkommunikation überhaupt. Einen Aufsatz, der sich direkt mit dem Schreiben von HTML beschäftigt, hat Paul ten Have 1999 geschrieben: Structuring writing for reading: hypertext and the reading body. Ich halte diesen Aufsatz für einen Ausgangspunkt für die ethnomethodologische Untersuchung von Web Literacy. Ich möchte in diesem Post nur auf ein Konzept ten Haves hinweisen: explication device. Ten Have sieht Hypertext nicht als etwas völlig Neues im Vergleich zu herkömmlichen geschriebenen Texten. Das Verfassen und das Lesen von Hypertext macht für ihn vielmehr Praktiken beobachtbar und beschreibbar, die auch ohne HTML schon zum Schreiben und Lesen gehörten. 

I will use HTML as an ‘explicating device’ in the sense that I have used HTML’s technologies in actual practices of reading and writing. While carrying out my local tasks, I also have observed my doings and experiences in order to learn about those in an ethnomethodological sense.

Zu den Zielen der Ethnomethodologie gehört es herausfinden, was den Mitgliedern einer Gesellschaft selbstverständlich ist. Das Problem dabei ist, dass das Selbstverständliche meist nur unter bestimmten Bedingungen sichtbar wird, die man in der ersten Phase der Ethnomethodologie z.B. durch die »breaching experiments« Harold Garfinkels selbst herstellte. Bei der Untersuchung der Interaktion in Gesprächen kann man aus dem Korrekturen, den repair-Vorgängen im Gesprächsverlauf, oft entnehmen, was die Gesprächspartner voneinander erwarten. Ein explication-device wie der Hypertext in der Untersuchung ten Haves funktioniert ähnlich: Er zeigt, wie die Interagienden beim Schreiben und Lesen Ordnungen erzeugen, die ihnen zwar selbstverständlich, aber oft nicht bewusst sind. Man könnte auch sagen, dass die Erfinder von HTML, also Tim Berners-Lee und seine Mitarbeiter und Nachfolger, das Schreiben und Lesen für den Ethnomethodologen analysiert haben, auch wenn sie eine ganz andere Absicht hatten, nämlich ein einfach zu handhabendes Textformat für das Web zu entwickeln. 

Man kann an ten Haves Aufsatz viele Überlegungen sowohl zur Methodik der Beschäftigung mit dem Web wie zu den Besonderheiten des Web anschließen. Methodisch liegt seinem Vorgehen zugrunde, dass sozialwissenschaftliche Begriffe Begriffe zweiter Ordnung sind, dass sie sich also auf Analysen und Kategorien beziehen, die die Mitglieder selbst verwenden, in diesem Fall auf die Analyse von Schreiben und Lesen bei der Entwicklung des Web. Dabei findet diese Analyse selbst innerhalb einer bestimmten sozialen Praxis statt, eben der der Interaktion im Web, für die das Schreiben und Lesen analysiert wurden. Dieses Vorgehen ist nicht mit dem üblichen »medientheoretischen« Daherphilosophieren über die Eigenschaften des Web, der Massenmedien oder anderer Medien zu vereinbaren. Diese »Medientheorien« sind nämlich weder an eine bestimmte Praxis (außer der der akademischen Theorieproduktion) gebunden noch berücksichtigen sie ihr eigenes Verhältnis zu den Kategorien der Gesellschaftsmitglieder. 

Über das Methodische hinaus zeigt ten Haves Aufsatz, wie eng ein Webphänomen wie HTML an soziale Praktiken gebunden ist, die unabhängig vom Web sind, auch wenn wir sie durch die Brille des Web sehen. Auch wenn man diese Analyse nicht zu einer Aussage über das Web überhaupt verallgemeinern kann, kann man sich auf sie stützen, um Ausgangshypothesen für die Untersuchung anderer Phänomene im Web, etwa von sozialen Netzwerken zu formulieren. Auch sie lassen sich vermutlich als Übersetzungen von sozialen Praktiken in das Web beschreiben und verstehen, nicht als deren utopisches oder dystopisches Gegenstück. Das Web zeigt sich dann nicht als »virtueller« Raum im Gegensatz zum »realen«, sondern eher als Materialisierung von Praktiken und Beziehungen, die es auch ohne Web gibt. Bruno 
Latour, dessen Vorgehen mit der Ethnomethodologie verwandt ist, meint wohl diesen Zusammenhang, wenn er schreibt:

We never stopped materialising our Virtual order …  except we do it at an extreme level of materialisation, going all the way into bauds and bytes and modems and clicks and sockets and all of these material networks which are now visible and web pages which we can follow [Thought Experiments in Social Science: from the Social Contract to Virtual Society].

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