An diesem Wochenende fand das zweite Grazer PolitCamp statt. Die meisten Sessions sind auf make.tv dokumentiert dokumentiert. Bilder gibt es bei Flickr.

Ich habe die Veranstaltung mitorganisiert — die meiste Arbeit hatten Studenten des Jahrgangs 2007 und Boris Böttger, der sich um die Technik gekümmert hat — und kann nicht objektiv sagen, was das Wochenende den Teilnehmern gebracht hat. Das Feedback war sehr positiv. Das PolitCamp hat Leute, die sich für Online-Kommunikation und Politik interessieren, zusammengebracht und vernetzt. Es war richtig darauf zu setzen, dass eine Community zu diesem Theme zustandekommt oder eher: diese Community zu unterstützen. Die Teilnehmer, vor allem die, die Sessions abgehalten haben, haben das Event dann tatsächlich gestaltet. Ich will nur Christoph Chorherr nennen, der seine Erfahrungen als Politiker und als Kommunikator mit sozialen Medien gleich in mehrere Sessions eingespeist hat.

Dass — außer unseren Studenten — an einem sonnigen Maiwochenende nach einem Brückentag ca. 40 Leute ein solches Event besuchen und aktiv mitmachen, zeigt, das es ein anhaltendes Interesse an dieser Thematik gibt — auch wenn das Web für die offizielle Politik weiterhin ein Randphänomen bleibt. Wir wollen im nächsten Frühjahr wieder ein PolitCamp in Graz organisieren, und ich hoffe, dass es im Herbst zu einem PolitCamp in Wien kommt. Ein Halbjahresrhythmus könnte die Diskusssionen tatsächlich voranbringen. Ich finde Christoph Chorherrs Vorschlag sehr gut, zum nächsten Mal gezielt webaffine Journlisten einzuladen, um über Veränderungen im Verhältnis von Politik und Öffentlichkeit zu diskutieren.

Über einzelne Sessions möchte ich später schreiben, hier nur drei Beobachtungen:

  1. Politik und Web 2.0 hat mit den Parteien nicht viel und vielleicht in Zukunft immer weniger zu tun. Bei den interessanten Themen geht es um die direkte Beteiligung von Bürgern, von den Grünen Vorwahlen bis zu den neuen Sites der Obama-Adminstration wie Data.gov und Open Government Brainstorm. Spannend wird sein, ob und welche Teilöffentichkeiten oder Netzwerke sich hier jenseits der Parteien etablieren können.

  2. Es gibt in Österreich viele Versuche, Plattformen zur politischen Partizipation einzurichten. Unser Studiengang wirkt selbst an beratend an einem solchen Projekt der steirischen Jugendlandesrätin mit; ähnliche Initiativen sind wohl Ehkloa.at und ichmachPolitik.at. Auch Georg Holzers Kärnten 2020 gehört in diese Reihe. Es ist wichtig, diese Projekte miteinander zu verbinden und zu einer Art österreichischem Netzwerk für politische Partizipation zu gelangen. Man kann gemeinsam Erfahrungen sammeln und auch gemeinsam politischen Druck entwickeln.

  3. Es ist sehr schwierig, reflektierend zu erfassen, was sich in der Politik und den Formen der politischen Kommunikation gerade verändert. Es kann sein, dass die Veränderungen zu schnell und wir zu nah an ihnen sind, um uns überhaupt theoretisch mit ihnen befassen zu können — Chorherr hat das am Wochenende so ähnlich gesagt. Andererseits gab es erhebliches Interesse an Sessions mit eher theoretischem Character, z.B. an Hc Voigts Die Emergenz des ‚web2.0‘ als Bedingung der Möglichkeit neuer Politischer Felder. Auf zukünftigen Politcamps sollten wir noch expliziter nach analytischen Tools und Beschreibungsmöglichkeiten fragen, wobei diese Tools selbst wieder webbasierte Komponenten haben können wie die Monitoring-Instrumente von Max Kossatz.

Die Actor-Network-Theorie kritisiert die Vorstellung, dass in der Gesellschaft nur Menschen handeln, die technische und andere Objekte als Instrumente benutzen. Handeln ist nur in Netzen möglich, zu denen auch Objekte, nichtmenschliche Wesen gehören. Versucht man, dieses Konzept auf den Journalismus anzuwenden, erkennt man, dass Journalisten im Web ganz anders agieren und agieren müssen als bei der Arbeit für die Zeitung oder das Fernsehen.

Menschen agieren zusammen mit Objekten

Wie kann ich die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) oder Soziologie der Übersetzung in meinen Arbeitsgebieten anwenden? Ich suche noch nach Antworten auf diese Frage. Hier vorläufige Überlegungen, die sich um das Konzept der agency drehen; ich werde in den kommenden Tagen versuchen, sie ausgehend vom Konzept des Lokalen und der Lokalisierung weiterzuführe und zu ergänzen.

agency ist einer der wichtigsten Begriffen der ANT. Das Wort steht für Handlungsmacht und für Vertretung, es bezeichnet die Handlungsmöglichkeiten eines Akteurs in ihrer Abhängigkeit von anderen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren in einem Netzwerk. Vielleicht kann man es mit Vollmacht übersetzen, in Österreich würde man wohl von pouvoir sprechen. Die Vertretungs- oder Handlungskompetenz wird von den Objekten mitbestimmt, mit denen menschliche Akteure verbunden sind, und damit auch von ihrer technischen Umwelt.

Die ANT bestimmt das Verhältnis des Handelnden zur Technik, zu den Mitteln, die er verwendet, neu. Menschliche Akteure und Objekte bilden gemeinsam soziale Einheiten, die meist als Kollektive bezeichnet werden. Dabei bestimmen die Objekte die Intentionen der Handelnden, so wie die Handelnden umgekehrt die Objekte beeinflussen. Die menschlichen Akteure sind in dem, was sie tun können, in ihrem Handlungspotenzial, auch Agenten der Objekte und anderer Akteure, die — wiederum über von ihnen beeinflusste Objekte — ihrem Handeln einen Rahmen geben, es formatieren.

Die gängige Vorstellung vom Menschen als einem Anwender der Technik stimmt also nicht: Handlungsvollmacht, agency, haben Menschen nur zusammen mit Objekte; die Handelnden werden von Netzwerken, zu denen Objekte gehören, ermächtigt.

Menschen als Übersetzer für Objekte, Objekte als Übersetzer für Menschen

Der Ausdruck Übersetzung bezeichnet, wie sich Mensch und Objekte beeinflussen. Die Objekte übersetzen Eigenschaften und Intentionen der Handelnden, und die menschlichen Akteure übersetzen Eigenschaften der Objekte. Wenn ich auf einem Computer schreibe, übersetzen das Fenster, in dem ich arbeite, der Cursor der Maus und die Farben bestimmter Wörter Eigenschaften des Computers, und der Computer übersetzt meinen Text in eine Folge von Bytes in einem bestimmten Format. Ich bilde als Schreibender mit dem Rechner eine Einheit; das Ergebnis bestimmen wir zusammen. Aber könnte ich dasselbe nicht mit einem Stift und Papier tun? Schon bei dem ersten Hyperlink, das ich setze, kann ich nicht mehr ohne Rechner agieren, und ich könnte diesen Text auch nicht ohne Rechner in einem Blog publizieren. Wenn ich diesen Text nicht mit einem Rechner produzieren würde, oder: wenn nicht ein Rechner und ich diesen Text zusammen erstellen würden, könnten Leser ihn nicht mit einer Suchmaschine finden und auf ihn verlinken. Ohne eine Infrastruktur, ein Kollektiv, zu dem Rechner gehören, hätte ich auch keinen Zugang zu den Communities, an die ich mich wende — einen kleinen Ausschnitt der Blogosphäre (die nicht nur aus Menschen besteht), darunter einige Studierende und Kollegen, die einen Feed von mir abonniert haben.

Auf allen Ebenen habe ich es mit zugleich technischen und sozialen Phänomenen zu tun. Angefangen mit der Codierung dieses Textes über das HTML-Format, in dem ich ihn publiziere, die Newsfeed-Formate, durch die ich ihn bekannt mache, die URL, duch die er identifizierbar wird, bis hin zu Facebook und Friendfeed, die ihn registrieren, kann ich nirgendwo eine technische und eine soziale Ebene voneinander trennen. Das Byte, Unicode, HTML, RSS und Atom, HTTP und das URL-Format, Social Networks und Life-Stream-Technologien übersetzen soziale Realitäten in technische und umgekehrt. Die Erfinder dieser Technologien, Leute wie Tim Berners-Lee, Tim Bray und Dave Winer, sind kompetente Soziologen, denen es gelungen ist, neue Kollektive wie das WWW und die Blogospäre zu initiieren und zu strukturieren.

Akteur-Netzwerke im Journalismus

Ich glaube, dass man das Konzept der agency sehr gut verwenden kann, um Formen des Journalismus (und der PR) zu beschreiben und zu analysieren.

Ich bin damit noch nicht auf der Ebene einer konkreten Analyse angekommen. Konkret müsste man einzelne Kollektive analysieren und beschreiben, welche Akteure in ihnen zusammenwirken, sich gegenseitig mobilisieren und organisieren. Aber schon auf einer ganz allgemeinen Ebene wird deutlich, dass sich das Internet als Umgebung für Journalismus und PR und die sozialen Formationen, in denen diese Disziplinen entstanden sind (und zu denen sie wohl auch gehören), radikal unterscheiden. Der herkömmliche Journalismus ist eine Übersetzung oder besteht aus Übersetzungen einer ganz anderen technisch-sozialen Realität, nämlich der kapitalintensiven und hierarchisch organisierten industriellen Massenproduktion. Charakteristika dieser Formation: teures Vertriebsnetz, leichte Reproduzierbarkeit, keine Beeinflussbarkeit des Produkts durch den Kunden. Journalisten arbeiten in dieser technischen und sozialen Struktur und erzeugen Inhalte, die darin von möglichst vielen Mitgliedern der jeweiligen Zielgruppen akzeptiert werden. Zu den Akteur-Netzwerken des Vor-Web-Journalismus gehören die Techniken und Vertriebsformen der industriellen Massenproduktion; sie finden Übersetzungen z.B. in dem, was als jouralistische Professionalität bezeichnet wird, in den redaktionellen Prozessen, die auf ein nicht veränderbares und leicht reproduzierbares Produkt ausgerichtet sind, und in der Organisation von Reaktionen mit ihren Hierarchien und Kommandozentralen oder dem repräsentativen Panorama des Newsrooms.

Die agency von Online-Journalisten und anderen Online-Kommunikatoren unterscheidet sich davon deutlich. Die Infrastruktur, die sie für Produktion und Vertrieb benötigen, ist nicht mehr kapitalinstensiv; ihre Produkte werden von den früheren Verbrauchern, die sich ihr eigenes Nachrichtenangebot zusammenstellen, mitgestaltet; sie arbeiten mit Webdesigern, Spezialisten für Suchmaschinen und Programmieren zusammen statt mit Layoutern und Herstellern usw. Die Netzwerke, die hier entstanden sind und entstehen, sind noch nicht oft detailliert beschrieben und in eine Beziehung zu anderen webgestützen Netzwerken (Communities of Practice, epistemische Communities) gesetzt worden.

Ein wichtiges praktisches Ergebnis konkreter Analysen von Akteur-Netzwerken im Journalismus könnten Kompetenzprofile von Journalisten und Kommunikatoren bilden. Damit meine ich nicht die technischen Fähigkeiten, über die Journalisten verfügen müssen, sondern ihre Fähigkeiten, ihre technisch mitbestimmte Situationen zu interpretieren und zu gestalten, also in webgestützten Netzen zu agieren.

Heute lesen wir im Standard, dass Österreich die Arbeitsmarktsperre für osteuropäische Mitgliedsstaaten bis 2011 verlängern lassen will. Im selben Artikel steht:

Die EU-Erweiterung machte Österreich zu einer Art Multi in Osteuropa. Mit Direktinvestitionen von 50 Milliarden Euro zählt das Land zu den größten Akteuren in der Region, die Exporte stiegen seit 2005 um knapp die Hälfte [EU gegen Hürden für Ostländer].

Hans Rauscher schreibt daneben im Einserkastl über den EU-Wahlkampf in Österreich:

Ein derartiges Einknicken von an sich proeuropäischen Parteien auf breiter Front vor der geschlossenen Abteilung der Anti-EU-Fanatiker hat es noch nicht gegeben [Weichei-Verhalten].

Als Deutscher mit viel Sympathien für Österreich habe ich mich schon lange gefragt, warum die mitteleuropäischen Völker Kakanien nach dem ersten Weltkrieg sofort demontiert haben. Langsam kann ich mir besser ausmalen, mit welcher Mentalität in der Monarchie regiert wurde. Multinationalität als Einbahnstraße — je mehr wir von den anderen bekommen, desto wütender halten wir sie draußen.

Dank Helge habe ich eine sehr interessante Präsentation über die Messung von Einfluss und ihren Autor Gregor Hochmuth entdeckt:

Wie finde ich interessante Informationen? Über Menschen, die mich interessieren. Wie finde ich heraus, ob jemand interessant ist, Einfluss hat? Indem ich sein Publikum anschaue. Dabei ist nicht unbedingt wichtig, wie groß das Publikum ist, sondern wer dazu gehört. Innerhalb des Publikums sind vor allem die Menschen relevant, die reagieren, Feedback geben. Im Social Web lässt sich das Feedback tracken, indem man Kommentare, Antworten auf Tweets und Facebook-Meldungen oder Retweets auswertet. Sie sind im Web der Personen das Pendant zu den Links im Web der Dokumente. Die Qualität von Web-Anwendungen hängt eng mit der Qualität der Feedback-Mechanismen zusammen.

Gregor Hochmuth gehört zu den Leuten, die Neues über soziale Medien zu sagen haben und es im Design von Applikationen umsetzen. Er arbeitet offenbar inzwischen bei Google. Er hat sich immer wieder mit dem Thema Messung von Einfluss beschäftigt. Gregor Hochmuth hat Mento und andere Dienste zum leichteren Umgang mit Online-Informationen entwickelt.

Das Thema seiner Präsentation nennt Gregor Hochmuth in einem Blogpost community analytics, ein Essential für jede site that’s built around people and the content they bring to you. Community analytics ist auch ein wichtiger Aspekt von Mento; Hochmuth geht darauf am Ende eines Interviews auf plOg.de ein. In The 3 Loops of Designing for Audience beschreibt er, wie Feedback verwendet werden kann, um ein Modell eines Publikums zu erzeugen.

Ich kann nur empfehlen, sich intensiv mit Gregor Hochmuths Ideen zu beschäftigen (nicht zuletzt empfehle ich es mir selbst). Ähnlich wie vielleicht bei Jyri Engeström bedingen sich bei ihm die Innovationenauf den Gebieten Soziale Objekte, Design und Anwendungsentwicklung wechselseitig.

Mein Post über Video in der PR in der letzten Woche war eine Reaktion auf die Präsentation von Volker Gassner beim PR-Tag in Dieburg. Volker Gassner hat dort vorgestellt, wie Greenpeace die kollaborativen Möglichkeiten des Webs nutzt oder nutzen will, und dazu gehört eben auch Video.

Ein Gesichtspunkt dabei, aber sicher nicht der einzige, ist die Möglichkeit, durch Video-Streaming in Echtzeit zu informieren. Im folgenden Kurzinterview fasst Gassner zusammen, was für Greenpeace am Web 2.0 wichtig ist:

Mich interessiert, wenn ich es etwas steil formuliere, welche Möglichkeiten ein episches Video im Brechtschen Sinn hat, also Video, das die Handlungsmöglichkeiten der Zuschauer vergrößert und das damit selbst Bestandteil und Instrument einer collective action ist. Es ist eine Alternative zu dem üblichen aristotelischen Video, das auf eine emotionale, innere Wirkung zielt. Dabei geht es mir nicht nur um politischen Aktivismus, sondern darum, wie man Video in der alltäglichen Kommunikation einer Firma, einer Organisation oder auch einer Gemeinde benutzen kann. Sicher ist dabei die Grenze zum didaktischen Video und damit zu einer bekannten Gattung fließend.

Erst jetzt bin ich darauf gekommen, dass es einen Begriff für das gibt, was ich meine, nämlich partizipatorisches Video. Partizipatorisches Video ist Video das bestimmte Gruppen anspricht, um mit ihnen gemeinsam zu handeln. Dazu braucht es nicht nur didaktische Qualitäten sondern muss zugleich motivieren und eine offene, von den Adressaten gestaltbare Situation zeigen. Viele Informationen über partizipatorisches Video bietet die Website von Insight, z.B. diese Einführung in das Thema:

Im Blog zu Howard Rheingolds Buch Smart Mobs findet sich einiges Material zu Möglichkeiten und Formen des partizipatorischen Video, z.B. hier, hier, hier , hier und hier.

Howard Rheingold hat auch einen Begriff gefunden, der trifft, was an partizipatorischem Video eigentlich neu ist; er spricht von vernacular Video, also Video als Volkssprache, nicht nur als Ausdrucksform einer Elite mit Zugang zu teuren und schwer zu beherrschenden Produktionsmitteln:

Das sind nur erste Notizen; für mich ist dieses Gebiet neu, ich habe selbst keine praktischen Erfahrungen mit Video. Ich bin mir sicher, dass die media literacy, von der Rheingold spricht, schon heute Video umfassen sollte, und dass zu ihr die hypermediale Verwendung von Video gehören muss, ein nichtlineares Erzählen im Kontext von anderen Informationen.

(Eine zweite Notiz zu Olaf Breidbachs Buch Neue Wissensordnungen, das ich gestern zuende gelesen habe. Auf Breidbachs deutliche Unterscheidung von Information und Wissen bin ich hier eingegangen.)

Ich habe Breidbachs Buch gekauft, weil mich die Frage des Untertitels Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht interessiert hat. Treffend ist dieser Untertitel nicht. Breidbach sagt vor allem, dass Wissen eine kulturelle Interpretation von Daten und Informationen ist; wie sie im einzelnen geschieht, beschreibt er nicht. Breidbachs Buch ist vor allem eine Kritik an der Vorstellung, es gebe so etwas wie eine Ordnung, die alles wirkliche und mögliche Wissen umfasst. Die neuen Wissensordnungen, von denen er spricht, sind dynamisch und zunächst lokal.

Zwei Wege, die nahe liegen, wenn man überhistorische Theorien des Wissens ablehnt, schlägt Breidbach nicht ein: die radikale Historisierung des Wissens, die es ablehnt, nach mehr als historischen Ordnungen zu fragen (diese Position ordnet Breidbach ausdrücklich Michel Foucault zu), und die Hermeneutik, die Wissen rekonstruiert, indem sie Konzepte des untersuchten Wissens übernimmt und zugleich den Abstand zwischen den eigenen Voraussetzungen und denen der interpretierten Konzepte reflektiert. Mit Hermeneutik beschäftigt sich Breidbach nicht ausdrücklich.

Das argumentative Gewicht des Buchs beruht nicht auf den Aussagen über die neuen Wissensordnungen, die immer sehr vage und vorläufig sind und sich möglicherweise mit Methoden wie denen der Actor Network Theory füllen und präzisieren ließen (z.B. was die Beziehungen zwischen Lokalem und Globalem angeht). Gewicht hat das Buch vor allem in seiner Kritik an allen Vorstellungen von Wissen als einer abschließbaren symbolischer Repräsentation der Realität, sei es die frühneuzeitliche Universalwissenschaft, seien es Expertensysteme.

Dabei enthält das Buch verschieden Argumentationen gegen das Verstehen von Wissen als symbolischer Repräsentation: Das Scheitern der Operationalisierung solcher Ansätze in der KI spielt für Breidbach eine wichtige Rolle, ebenso die These, dass diese Konzepte letztlich auf nicht mehr haltbaren theologischen Voraussetzungen beruhen (Gott sorgt dafür, dass der Mensch die Welt adäquat versteht.) Die wichtigste und wohl auch originellste Argumentation beruht auf der Evolutionstheorie: Wenn Wissen letztlich in evolutionären Prozessen entsteht, und wenn die Evolution nicht von einem intelligent design abhängig, sondern zufällig ist, dann gibt es keinen Grund dafür, die Entwicklung des Wissens teleologisch als Annäherung an die sich immer mehr erschließende Realität zu verstehen.

Eine interessante Ebene des Buchs bilden Breidbachs Reflexionen über die Metaphorizität und Nichtmetaphorizität der Begriffe, mit denen man über Wissen spricht. Für Breidbach gehören Unbestimmtheit und Offenheit zu kognitiven Prozessen, und sie drücken sich in einer metaphorischen Sprache, z.B. in Ausdrücken wie Netzwerk, aus. Diese Metaphern lassen sich aber durch Kritik und Explikation auflösen; die Sprache, in der man über das Wissen spricht, ist für Breidbach nicht notwendig metaphorisch. So wie Breidbach das Wissen einerseits historisiert und andererseits von Ordnungen des Wissens spricht, so erkennt er die Metaphorizität des Ausdrucks von Wissen an, glaubt aber, sich ihr entziehen zu können.

Was bedeutet das für die Themen, mit denen ich mich beschäftige, also für die Vermittlung und Erzeugung von Wissen mit Online-Medien? So etwas wie eine direkte Anwendung finde ich nicht, das würde dem Buch nicht gerecht. Interessant in Hinblick auf den Journalsmus ist, was Breidbach über die Abhängigkeit jedes Wissens von Strukturen (damit meint er materielle Voraussetzungen im weitesten Sinn, z.B. Apparate und Praktiken) sagt. Die journalistischen Methoden (von der Interviewtechnik bis zum check!, cross check! double check!) lassen sich wohl ganz ähnlich wie wissenschaftliche Methoden beschreiben, auch in ihnen geht es um die Erzeugung von Wissen, und auch die journalistische Arbeit hängt von technischen und institutionellen Voraussetzungen und von erlern- und tradier- aber nur zum Teil beschreibbaren Praktiken ab. Speziell im Online-Journalismus verändern sich die Strukturen radikal, insbesondere dadurch, dass und wie Daten journalistisch relevant werden. Andererseits entstehen neue Praktiken, z.B. der Kommunikation in sozialen Netzwerken oder auch auf BarCamps.

Noch wichtiger könnten Breidbachs Argumentationen für Kommunikationspraktiker als garde-fou gegenüber vorschnellen Totalisierungen sein. Breidbach zeigt, dass Wissenstopologien allenfalls lokal und provisorisch sein können. Das betrifft auch die Darstellung von Wissen bis hin zur Strukturierung von Websites. So wäre zu überlegen, welche Rolle metaphorische Topologien (etwa Wissensnetze) überhaupt bei der Präsentation von Wissen spielen können, und wie sie z.B. mit anderen Formen der Kontextualisierung von Informationen verbunden werden können.

Wir arbeiten jetzt seit zwei Wochen mit dem Social Media Classroom. Wir benutzen ihn für zwei Lehrveranstaltungen (PR im Web, Webbasiertes Arbeiten) als Content Management System und als einen virtuellen zusätzlichen Unterrichtsraum. An den Kurs über webbasiertes Arbeiten gekoppelt ist eine Schreibwerkstatt, in der einige der behandelten Tools gleich verwendet werden können. In der Veranstaltung zum webbasieren Arbeiten soll eine von den Studenten gepflegte Wissensbasis entstehen; abgesehen von 7 Rahmenthemen bestimmen die Studierenden selbst, was sie lernen wollen; für die Note wird bewertet, was und wie sie zur Wissenbasis beitragen, nicht was sie individuell als Wissen in einer Prüfung demonstrieren können. Das Wissen der Lehrenden wird also als Ressource genutzt, die inhaltliche Steuerung ist aber Sache der Studierenden.

Es ist natürlich viel zu früh für eine Einschätzung, ob dieses Konzept funktioniert. Die Studenten brauchen zuerst (wie ich auch) eine Zeit, um das Konzept zu verstehen und mit der Technik umgehen zu können, und diese Einarbeitungsphase ist nicht einmal abgeschlossen. Eine ganze Reihe der Studenten haben gesagt, dass es ungewohnt für sie ist, die verschiedenen Tools, die im Social Media Classroom zusammengefasst sind (Wikis, Blogs, Social Bookmarks, Foren und Chat) zusammen zu benutzen, obwohl sie meisten von ihnen einzeln kennen und verwenden. Gestern hatten wir die ersten Themenpräsentationen durch Studenten in der gesamten Gruppe; dabei hat mich überrascht, wie engagiert sich die Studenten mit den Inhalten beschäftigt haben. Ich bin schon nach dieser Sitzung ziemlich sicher, dass sich die eher technischen Themen (die für eine Reihe der angehenden Kommunikatoren und Journalisten fremd sind) so besser vermitteln lassen als im Lehrervortrag.

Die eigentliche Schwierigkeit liegt, glaube ich, darin, in der Lehre eine Community of Practice aufzubauen. Das wäre leichter, wenn wir an unserem Studiengang bereits eine solche Community wären, in die die neuen Studenten hineinwachsen könnten. Das PolitCamp im letzten Jahr war für viele Studenten ein Initiation, bei der sie erlebten, wie in einer Gruppe von Leuten kommuniziert wird, die mehr oder weniger alltäglich im Web Wissen untereinander austauschen. Wir müssen uns im Studiengang mehr als offene Gruppe verstehen und organisieren, in der der Wissensaustausch (intern und extern) selbstverständlich ist.

Ich kann das leider in dieser Anfangsphase nur so vage andeuten; die Vorstellungen von Studenten wie Luca und Michael, dazu, wie Kommunikation an einer Hochschule gelehrt und gelernt werden kann, gehen wohl in dieselbe Richtung. Im Augenblick kreieren wir im Unterricht die Community of Practice, in die der Unterricht einführen soll. Das ist ein spannender Prozess, der sich schon jetzt auch auf die Kommunikation unter den Lehrenden auswirkt. Zum ersten Mal arbeiten wir spontan als eine Gruppe, die sich um mehrere Lehrveranstaltungen zugleich kümmert. Ich habe auch den Eindruck, dass wir die Querverbindungen zwischen verschiedenen Lehrveranstaltungen noch nie so gut als ein zentrales Element des Unterrichts verstanden haben.

Gestern abend: Zweiter Grazer Webmontag in der Scherbe — eher ein Stammtisch als ein Mini-Barcamp. Einige Diskussionen darüber, ob das Grazer Designcamp und das nächste Grazer Politcamp, die beide am vorletzten Maiwochenende stattfinden sollen, zusammengelegt werden können. Mir gefällt die Kombination; beide Veranstaltungen würden gewinnen.

Unter den 20 – 30 Grazer Geeks war Henriette Zirl, die mir einiges über ihr Blog und über Chyrp erzählt hat, das Tumblelog-CMS, mit dem sie es betreibt. Tumblelogs sind Weblogs, in denen vor allem Fundstücke und Zitate aneinandergereiht werden; eine sorgfältige diskursive Darstellung, Kommentare oder Widgets zur Erschließung der eigenen oder der Verknüpfung mit anderen Inhalten spielen keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Das bekannteste Tumblelog-System hier in Österreich ist soup, hinter dem u.a. Christopher Clay steht; international wird wohl tumblr am meisten für gehostete Tumblelogs benutzt. Chyrp ist ein System für Tumblelogs auf dem eigenen Server; beim letzten Grazer Barcamp hat Peter Scheir es erwähnt. (Henriette hat mir gestern erklärt, dass soup keine selbständigen Pages erlaubt, so dass man nicht z.B. kein Impressum anlegen kann.)

Tumblelogs faszinieren mich, aber ich habe noch nie länger mit jemand gesprochen, der wirklich ein Tumblelog betreibt. Henriettes Blog zeigt, dass Tumblelogs alles andere als chaotisch sind, sie sind kein Mischmasch, sondern Sammlungen von Präparaten, Fundstücken und Nahaufnahmen, denen keine Ordnung übergestülpt wird. Das Bloggen wird zu einer seiner Essenzen konzentriert; Tumblelogs sind Blogs, in denen sich die Kommentare fast vollständig auf den Blick beschränken, mit dem die Elemente ausgewählt werden — das Gegenteil von dem, was ich hier mache, obwohl ich auch an eine Sammlung von Fundstücken dachte, als ich begonnen habe zu bloggen.

Ich hoffe, dass Henriette bald auf die FH in eine Übung zum Schreiben im Web kommt. Abgesehen davon, dass ich das Gespräch gerne fortsetzen würde: Von ihr könnten unsere Studenten lernen, wie eng beim Online-Schreiben der Zusammenhang von Inhalt und Form und wie wichtig die Aufmerksamkeit für die scheinbar nur technischen Details der Content Management Systeme ist, die man dabei benutzt.

Gestern habe ich (für unsere Lehveranstaltung Multimedia Art) nach Beispielen dafür gesucht, wie Online-Video in der PR verwendet wird. Das Material, das ich gefunden habe, kann man nach zwei Gesichtspunkten ordnen:

  1. Wie wird Aufmerksamkeit erzeugt?
  2. Wie werden die Benutzer involviert? Welche Art von Kollektiv oder Gruppe bilden Sender und Empfänger gemeinsam?

Zum ersten Aspekt: Ich habe den Eindruck, dass Video als PR und vielleicht auch als Marketing-Instrument vor allem in Beziehung und auch in Opposition zu traditionellen Formaten für Bewegtbild verstanden wird, also zu Kino und Fernsehen. Oft geht es dabei um das Verhältnis von Kultur und Subkultur; das Online-Video ist eine subkulturelles Phänomen, das von der Kultur oder Hochkultur immer wieder angeeignet werden kann. YouTube ist ein Beispiel für eine Plattform, die die besonderen Vorteile der Subkultur zur Erzeugung von Aufmerksamkeit bietet, aber gleichzeitig schon in die offizielle Kultur übergegangen ist. Dabei scheinen sich Kultur und Subkultur immer gegenseitig zu spiegeln und nachzuahmen. Im Verhältnis des Senders zum Empfänger unterscheiden sie sich nicht grundlegend; die Subkultur lässt aber mehr Sender (potenziell jeden) und Inhalte zu, die gegen die Konventionen der Hochkultur verstoßen. (Damit will ich nur einen Ausgangspunkt formulieren; ich müsste mich mit Theorien der Subkultur beschäftigen, um diese Mechanismen bzw. meine Kriterien zu reflektieren.)

Beispiel für ein virales Video (gefunden in The Secret Strategies Behind Many “Viral” Videos):

Zum zweiten Aspekt: Organisationen und Firmen verwenden Videos auch, um gemeinsam mit Adressaten aktiv zu werden; Beispiele sind Greenpeace-Kampagnen und natürlich auch die Obama-Kampagne bzw. ihre aktuellen Fortsetzungen. Hier dient Video vor allem dazu, Informationen mit Adressaten auszutauschen und möglichst direkt, eventuell auch zeitgleich (Streaming) mit ihnen zu kommunizieren. Video ist ein Kommunikationskanal mit spezifischen Möglichkeiten; z.B. lassen sich Dinge sehr leicht demonstrieren. Gerade hier ist die Verbindung von Video und mobiler Kommunikation interessant.

Beispiel für ein Video als Element einer kollektiven Aktion:

Die beiden Aspekte lassen sich nicht voneinander trennen, aber einer dominiert in der Regel. Wenn ein Firma eine eigene Site mit Material zu ihren Kult-Commercials ins Netz stellt (wie Anheuser-Busch Extras), kommt es ihr auf Aufmerksamkeit an, aber gleichzeitig bildet sie eine Community um sich herum und richtet einen Feedback-Kanal ein. Damit wird kollektives Handeln möglich, oder aber: Seine Möglichkeit wird wenigstens suggeriert. Umgekehrt muss auch jedes Video, das als Medium in einer Aktion verwendet wird, Aufmerksamkeit erzeugen. Eine interessante Hybrid-Form ist das Greenpeace-TV (noch in Beta-Version), das zum einen Kampagnen-Charakter hat, also zu konkreten Informationen aufruft und die dazu nötigen Informationen vermittelt, und zum anderen mit Mitteln der Videoästhetik Aufmerksamkeit erreicht, diese Mittel aber gegen den Strich bürstet. Beispiel:

Ist das eine Ausnahme oder ein Vorbild für Video in der Online-PR? Kann ein Video gleich gut Aufmerksamkeit erregen und zur Aktion anleiten? Oder besteht immer eine Spannung zwischen der Darstellungs- und der Kommunikationsaufgabe, bei der eine Seite das größere Gewicht hat?