Zu den Wörtern des Jahres 2008 gehört Zeitungskrise. Wie Unglücksbotschaften in einem antiken Drama erreichten Nachrichten über
sinkende Leserzahlen und Entlassungen die Branche. Am härtesten traf die Krise die Zeitungen in den USA. Dort fallen die
Werbeeinahmen seit Sommer 2006 kontinuierlich. 2008 gingen sie im ersten
Quartal gegenüber dem Vorjahr um 12,9, im zweiten um 15,1 und im
dritten um 18,1 Prozent zurück. Die katastrophale Entwicklung dürfte
sich im letzten Quartal noch verschlimmert haben. Im dritten Quartal
hat die Muttergesellschaft der New York Times eine Wertberichtigung um 166 Mio. Dollar für ihren Zeitungsbesitz vorgenommen, die Muttergesellschaft der Chicago Tribune und der Los Angeles Times hat sogar Konkurs angemeldet.. Insgesamt wurden bei amerikanischen Zeitungen 2008 über 15 000 Stellen gestrichen.
(Grafik: Papercuts stellt Entlassungen bei amerikanischen Zeitungen auf einer Google Map dar; auf die Seite hat bereits Dirk von Gehlen in seinen Digitalen Notizen hingewiesen.)
Zwei langsame, aber kontinuierliche Trends — die Abwanderung der User und die Abwanderung der werbetreibenden Wirtschaft ins Netz — und die dramatisch schlechte Konjunktursituation verstärken sich gegenseitig.
Nicht nur Beschäftigte amerikanischer Zeitungen blicken in einen Abgrund. Die Situation in England ähnelt der in den USA. Ein Bericht der
Beratungsfirma Deloitte sagt für 2009 voraus, dass täglich ca. 9
Millionen Tageszeitungen verkauft werden, nach 11 Millionen 2008 und
12,8 Millionen 2002 [Writing on the wall for newspapers]. Jede zehnte Zeitung werde schließen müssen. Das Werbevolumen werde sinken, die Rubrikenmärkte dürften drastisch schrumpfen.
Wie deutsche Medienhäuser auf die erwarteten Gewinneinbrüche reagieren, hat Christiane Schulzki-Haddouti zusammengestellt.
Weltweit wird der Zeitungsbranche für 2009 vorausgesagt, dass die Werbeeinnahmen um 3,6 Prozent sinken — das ist mehr als bei allen anderen Medien. Bei einer von UBS gesponserten Medienkonferenz in New York prophezeite Adam Smith von der Firma GroupM einen Kulturwandel in der Zeitungsbranche: Die Gewinnmargen für lokale und regionale Zeitungen würden unwiderruflich von 30% auf 10% fallen.
Wenn man den Analysen in Wirtschaftszeitungen glauben darf, so ist diese Entwicklung unumkehrbar. Zeitungsverlage werden nie wieder zu ihrer einstigen Größe — und das heißt auch: zu den einstigen Gewinnen — zurückfinden. Um ihr Geschäft überhaupt profitabel weiter betreiben zu können, müssen sie sich neu orientieren.
Online-Zeitung statt gedruckte Zeitung?
Andererseits: Bei der LA Times — also einer Zeitung im Konkursverfahren — übertreffen die Einnahmen aus dem Online-Geschäft erstmals die Kosten der Redaktion, und insgesamt haben die Zugriffe auf die Online-Ausgaben der US-Zeitungen im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Die Nutzung der 30 stärksten Zeitungssites in den USA stieg steil an; die LA Times hatte 143% der Benutzer des Vorjahrs. Studien zeigen, dass das Web in den USA 2008 zum ersten Mal als Nachrichtenmedium die Zeitungen überholte; bei jungen Erwachsenen liegt es mit dem Fernsehen gleichauf.
(Grafik: Copyright © 2008 Pew Research Center All Rights Reserved)
Die nächstliegende Frage ist natürlich: Wird oder kann Online Print ablösen und verwandeln sich die Zeitungen mehr und mehr in Online- Zeitungen? Ziemlich sicher kann man sagen, und dass Zeitungen auf absehbare Zeit online nicht so viel verdienen können, wie ihnen im Print verlorengeht. Wie James Surowiecki im New Yorker festgestellt hat, subventionieren die Leser der Printausgaben die redaktionelle Qualität der Websites der Zeitungen.
Do what you do best and link to the rest
als wirtschaftliche Maxime
Interessanter als die simple Alternative Online oder Print? ist die Frage, ob sich die Zeitungen auch qualitativ verändern, welche Folgen die Krise für ihre Angebote hat. Die erste und sichtbarste Folge der Krise ist natürlich, dass die Zeitungen ihr redaktionelles Angebot kürzen: Damit gleiten sie auf einer Todesspirale abwärts — weniger Inhalt macht die Blätter für die Leser weniger attraktiv, weniger Leser zwingen dazu, inhaltlich noch weiter abzuspecken.
(Grafik: Telemedicus/Anja Assion; some rights reserved)
In den USA zeichnet sich aber auch eine andere Entwicklung ab. Zeitungen schließen neue Allianzen, an die vor kurzem noch niemand gedacht hat. Frühere Konkurrenten überlegen ihre Vertriebe zusammen zu legen. Bündnisse zur gemeinsamen Online-Vermarktung haben erstmals Erfolgschancen. Jeff Jarvis empfiehlt den Zeitungen, nur noch über die Themen selbst zu berichten, bei denen sie die größte Kompetenz haben und sonst auf andere Angebote zu verweisen.
Man versteht Jarvis‘ Satz „cover what you do best, link to the rest“ meist als Anweisung an Autorinnen: Schreibe über die Dinge, die du kennst und linke auf alle anderen Information. Er drückt aber auch ein Geschäftsprinzip für Verlage aus: Mache mit deinen Publikationen, was du am besten kannst, und greife überall da auf andere zurück, wo sie die besseren Informationen haben. Die Regel zieht letztlich die Konsequenz daraus, dass im Netz jede Benutzerin und jeder Benutzer ihre
eigenen Informationen selbst zusammenstellen kann. Wenn ich auf
einer anderen Website weit bessere Informationen über Wirtschaft
finde als auf der Website meiner Zeitung, werde ich sie dort holen. Es
bringt also relativ wenig, wenn meine Zeitung versucht, mir ähnliche
Informationen auch noch anzubieten — möglicherweise aber viel,
wenn sie mich auf die bestmöglichen Informationen hinweist. In gedruckten
(Tages-)zeitungen ist das anders: Da erwarteten die Leserinnen vollständige
Berichterstattung über alle Themen in einem Blatt.
Jarvis empfiehlt zum Beispiel, dass eine Zeitung wie die Los Angeles Times die nationale und internationale Berichterstattung von einer Site wie der Washington Post übernimmt und umgekehrt anderen Zeitungen Ihre Berichterstattung über das Entertainment-Business und Hollywood zur Verfügung stellt. Die Los Angeles Times würde zu einem Spezialisten für Ereignisse in ihrer Region. Ich vermute, dass sich auf Dauer im Netz nur eine solche Aufgabenteilung oder Verknüpfung unterschiedlicher Angebote wird durchsetzen können. (Das kann, muss aber nicht auf Kosten der Qualität gehen.) Das unbundling der Nachrichten könnte auf zwei Stufen stattfinden: beim Verbraucher, der sich sein individuelles Nachrichtenpaket zusammenstellt, und bei Zeitungen und Newsportalen, die — außer ihren eigenen Berichten — eine redaktionelle Auswahl aus der Vielzahl weiterer Nachrichten anbieten. Für Journalisten könnte das bedeuten, dass sie die größten Arbeitsmarktchancen haben, wenn sie sich einerseits thematisch
spezialisieren und andererseits für möglichst viele Abspielplattformen
arbeiten können. (Im deutschen Sprachraum reagierte Thomas Knüwer schnell auf Jarvis‘ Vorschlag für die LA Times; er konzentrierte sich aber auf die Frage, warum Zeitungen hier nach wir vor Angst vor Hyperlinks haben.)
Eine Publikation oder Website als Knoten in einem Netz zu verstehen, zu dessen Qualität die Beziehungen zu den anderen Knoten gehört (einschließlich den Mitbewerbern
) ist für traditionelle Verlage neu. Dieses Modell ist möglicherweise das Gegenteil der Vision von Medienmanagern, die so viele Inhalte wie möglich in möglichst vielen Medien aus einer Hand anbieten wollen. Diese Manager-Vision verträgt sich allerdings kaum mit der sehr viel stärkeren Position der Kunden im Netz. Wer sie verwirklichen wollte, müsste den Benutzerinnen die Macht wieder zu nehmen, zu der ihnen das Netz gerade verholfen hat. Im Netz suchen die Kunden nach Spezialisten, nach dem Angebot, das ihre Bedürfnisse am besten erfüllt. So werden sie es auch mit Medien halten. Die Zeitungskrise führt möglicherweise bei einigen Medienmanagern erstmals zu der Einsicht, dass sie sich auf diese veränderten Verhältnisse einstellen müssen.