Ein paar der interessantesten Theoretiker des neuen Journalismus lehren in New York. Zwei von ihnen, Jay Rosen und Clay Shirky, haben vor Weihnachten an der New York University miteinander diskutiert. Fast in der Mitte der Diskussion erzählt Shirky, dass seine Studenten gedruckte Zeitungen gar nicht mehr aus eigener Anschauung kennen. „I have to buy physical newspapers“, sagt er—die er dann gleich zerschnitten hat, um an Gewicht festzustellen, wieviel Papier tatsächlich für journalistische Inhalte verwendet wurde, statt z.B. für Kreuzworträtsel und Horoskope.

Videos der Diskussion finden sich mit weiterem Material in der Dokumentation der New York University und bei YouTube. Hier das erste:

Wenn man sich dafür interessiert, was Öffentlichkeit heute sein kann, lohnt es sich, der Diskussion in Ruhe zu folgen. Ich habe es noch nicht geschafft, wenigstens den wichtigsten der vielen Anregungen nachzugehen. Rosen und Shirky interessieren sich für den Printjournalismus nur noch als historisches Phänomen. Sie halten die Suche nach neuen Business-Modellen für die Nicht-mehr-Print-Zeitungen für unwichtig, wenn man die Frage beantworten will, wie eine kritische Öffentlichkeit im Zeitalter der superdistribution funktionieren kann. Denn selbst wenn es Geschäftsmodelle für „Online-Zeitungen“ gäbe: In Web werden nicht Journalisten und Verlage steuern, welche Nachrichten wie viele Bürger erreichen.

Rosen und Shirky haben unterschiedliche Augangspunkte—Rosen die Tradition des Bürgerjournalismus, Shirky die Soziologie der kollektiven Handlung. Beide sehen die entscheidende Veränderung für den Journalismus durch das Netz darin, dass sich die Kontrolle über die Nachrichten auf das vernetzte frühere Publikum verschiebt. Die Diskussion zeigt: In den USA funktioniert die Blogosphäre als demokratisches Kontrollorgan, wenn auch nur sehr eingeschränkt. Bei uns sind wir davon noch weit entfernt.

Bemerkenswert ist auch, wie früh Shirky und Rosen radikale Veränderungen im Nachrichtenuniversum voraussahen, und wie spät man, wenn überhaupt, auf sie hörte. Speziell hier in Österreich sollte man das ernst nehmen. Die Presse in Österreich scheint bisher von der Krise weit weniger getroffen zu werden als die in den USA, während in Deutschland die Zahlen für die verkauften Auflagen schon seit Jahren sinken. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass durch Presseförderung und Regierungsanzeigen die österreichische Presse ohnehin nicht wirklich marktwirtschaftlich funktioniert, und auch damit, dass die Presse in Österreich nie das Ansehen als vierte Säule der Demokratie hatte, das sie in den USA immer mehr verloren hat. Eine Rolle spielt sicher auch, dass sich der Online-Markt und vor allem die Online-Werbung in Österreich erst langsam entwickeln. Aber zu glauben, dass Print-Zeitungen oder Online-Produkte, die das Print-Modell ins Web übertragen, eine längere wirtschaftliche Zukunft hätten, ist in Österreich heute nicht weniger naiv, als es das in den USA vor ein paar Jahren war.

Lazyfeed ist eines der interessantesten neuen Nachrichten-Interfaces—eine Alternative, oder besser: eine Ergänzung zu Feedreadern, in denen man seine individuelle Sammlung von RSS-Feeds verfolgt. Mit Lazyfeed abonniert man Topics und auch einzelne Seiten. Wie Twitter, Friendfeed und die neue Google-Suche wird Lazyfeed in Echtzeit aktualisiert. Man kann beobachten, wie sich aktualisierte Themen auf der Startseite nach oben bewegen.

Ich bin auf Lazyfeed durch Louis Gray aufmerksam geworden, den ich einmal mehr als eine der besten Quellen zu Social Media und neuen Nachrichten-Formaten empfehlen möchte. Er hat im Dezember die neue Oberfläche von Lazyfeed vorgestellt. Vor ein paar Tagen hat Gray darauf hingewiesen, dass man mit Lazyfeed auch einzelne Seiten abonnieren kann. Man wird dann auf alle Beiträge in den Quellen von Lazyfeed aufmerksam gemacht, die sich auf den abonnierten Beitrag beziehen. Auch ReadWriteWeb hat mehrfach über Lazyfeed berichtet, so darüber, dass der Dienst als einer der ersten die Echtzeit-Protokolle RSSCloud und PubSubHubBub implementiert hat.

Lazyfeed bringt Nachrichten nach dem Push-Prinzip. Auf der About-Seite des Dienstes steht: Die Nachrichten werden am Fließband geliefert wie die Speisen in einem Running Sushi.

Lazyfeed is Conveyor belt sushi for your interest. Lazyfeed is all about letting you watch live updates on every topic you care about. Just add the topics you are interested in and start watching. Real-time updates on those topics will continuously flow in automatically. Don’t surf. Let the web come to you. [Lazyfeed]

Wie das funktioniert, sieht man am besten im Video:

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Das Lazyfeed-Blog erklärt das neue Interface.

Lazyfeed scannt derzeit 1,5 Millionen Seiten. Sie werden Topics zugeordnet.

Wenn man sich für den Dienst registriert hat, sieht man die Topics, die man abonniert hat, auf der Startseite:

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Klickt man auf einen der Topics, erhält man eine zeitlich geordnete Übersicht über die letzten Nachrichten zum Thema:

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Man kann eine Nachricht auswählen und sie inline auf der Lazyfeed-Seite lesen:

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Hier die Übersicht über die abonnierten Feeds:

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Und ein Abo einer einzelnen Seite—für mich eines der interessantesten Features von Lazyfeed:

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Ich überlege gerade, wie man die Besonderheiten der Nachrichten im Web mit dem Model-View-Controller-Pattern verstehen kann. Ich glaube, dass Streams der wichtigste webtypische View auf Nachrichten sind. Lazyfeed bietet eine neuartige Echtzeit-Sicht auf Nachrichten und ist ein Beispiel für eine Alternative zur täglichen Zeitung. Beabsichtigt oder nicht: Das Lazyfeed-Interface passt übrigens sehr gut auf einen Tablet-PC.

Christiane Schulzki-Haddouti hat ihre Liste journalistischer Kompetenzen vor ein paar Wochen um die “Haltung” als journalistische Kernkompetenz erweitert. Ich versuche, mich im Unterricht an diesen Kompetenzen zu orientieren, und lege sie auch dem Teilcurriculum Social Media zugrunde, an dem ich mich bei den Lehrveranstaltungen orientiere, an denen ich an unserem Studiengang beteiligt bin. Ich denke jetzt gerade wieder über diese Kompetenzen nach, weil ich ein Teaching Portfolio einrichten will — als Pendant zu ePortfolios der Studierenden.

Kann man Haltung als Kompetenz bezeichnen? Ober besser: Wie kann man—für Studierende einsichtig—beschreiben, um was es dabei geht? Ich würde die Kompetenz etwas anders formulieren: als Fähigkeit, das eigene Handeln in der Öffentlichkeit an einer reflektierten, expliziten journalistischen Ethik auszurichten und laufend auf sie zu beziehen. (Das ist noch holprig, ich weiß.) Wenn man sie so umschreibt, passt die Kompetenz in die Reihe der anderen von Christiane genannten Kompetenzen. Diese Kompetenz lässt sich tatsächlich unterrichten; man kann außerdem überprüfen, ob sie da ist, ohne dass man kontrollieren muss, ob die Studenten sich ethisch verhalten. Man kann sie übrigens auch von PR-Leuten verlangen—die wir hier ja auch ausbilden.

Zur journalistischen Ethik gehören die Normen, die Christiane Schulzki-Haddouti formuliert, vor allem die relative Unabhängigkeit. Die journalistische Ethik ist sicher nicht etwas überhistorisch Vorgegebenes, sie muss immer wieder in Diskussionen formuliert und überprüft werden—in Diskussionen, an denen sich auch das frühere Publikum beteiligen sollte, und in denen man die Frage der Begründbarkeit ethischer Normen ausdrücklich stellen sollte.

Die journalistische Haltung als Ziel der Lehre zu behandeln, bedeutet für mich: die spezifische ethische Rolle von Journalisten (und auch professionellen Kommunikatoren) immer wieder zu thematisieren und die übrigen Kompetenzen und skills, die vermittelt werden, auf sie zu beziehen. Zunehmend wird mir klar, dass man ohne diese ethische Dimension überhaupt nicht von journalistischer Professionalität sprechen kann. Mir hat dafür vor allem David Barstows Auftritt an unserem Studengang die Augen geöffnet.

In den letzten Wochen bin ich fast gar nicht dazu gekommen, in meinen Feedreader zu schauen. Einiges habe ich jetzt nachgeholt; hier ein paar Hinweise auf Beiträge zur Situation und zur Zukunft des Journalismus, die ich lesenwert fand. Sie berühren alle das Thema der Innovation im Journalismus. Man könnte aber auch sagen: sie sind alle Dokumente der Revolution in der News-Industrie, an der wir gerade teilnehmen.

Auf der einen Seite wird immer deutlicher, dass die herkömmlichen Print-/Brodcast-Modelle an ein wirtschaftliches und technologisches Ende gekommen sind. Die Verleger rufen nach staatlichem Schutz und Subventionen wie die deutsche Kohleindustrie in den 70er Jahren—sie verabschieden sich von dem Markt, der sie reich gemacht hat, und beschweren sich über innovative Unternehmen wie Google, die erkannt haben, wie der Online-Markt für Informationen funktioniert.

Auf der anderen Seite wird deutlicher erkennbar, wie das webbasierte News-Universum aussehen könnte: Wichtigstes Element ist die kollaborative Erstellung von Nachrichten in Echtzeit, für die Informationen je nach Ort, Thema und Relevanz laufend neu gefiltert, sortiert und vernetzt werden. Der Artikel, die Geschichte, die Sendung als das „fertige“ journalistische Produkt wird zu einem Element in einem laufenden Austausch von Informationen, an dem Profis (Journalisten, professionelle Kommunikatoren) teilnehmen, den sie aber nicht mehr kontrollieren.

Geht es im Web überhaupt um „Geld für Inhalte“?

Einer der interessantesten Beiträge zur Paid Content-Debatte: Stefan Kohs unterscheidet in Online-Journalismus: Raus aus der Gratisfalle zwischen Grenzkosten der Nutzung und Grenzkosten der Bereitstellung von Inhalten. Er wendet sich mit guten Argumenten gegen eine Kulturflatrate und andere Formen der öffentlichen Zwangsfinanzierung bestimmter Inhalteanbieter. Er hält Bezahlmodelle für grundsätzlich möglich und fordert auf Geschäftsmodelle zu entwickeln (zwei interessante Versuche, auf die er verweist: Kachingle und Journalism Online).

Ich bleibe skeptisch, was Bezahlinhalte im Netz angeht. Ich glaube, dass schon das statische Konzept des Inhalts (ein grauenhaftes Wort!) im Web nicht funktioniert. Das Web lebt von Links, Rebundlings, Remixes und Remakes. Damit will ich nicht sagen, dass nicht Geschäftsmodelle im Web möglich seien—aber sie müssten sich eher auf Services beziehen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt geboten werden.

Twitter als Beispiel für Echtzeit-Nachrichten im Web

Ein Beispiel für Webangebote, die nicht in das Schema des statischen Contents passen: Listorious ist ein Verzeichnis für Twitter-Listen, u.a. gibt es eine Zusammenstellung von Journalismus-Listen. Ziel von Listorious ist es, die relevantesten Listen zu einem Thema auffindbar zu machen. So findet man über Listorious Jay Rosens Liste der Best Mindcasters I Know oder Mindy McAdams Liste der (übrigens durchgängig weiblichen) Media Thinkers.

Wie verwendet man Twitter-Listen journalistisch? Mark Coddington schreibt darüber am Beispiel des Amoklaufs von Fort Hood und verlinkt dabei eine ganze Reihe von Beiträgen aus der US-amerikanischen Diskussion zu dem von Twitter eingefügten Feature. Jeff Jarvis hat das Kuratieren von Links schon vor einiger Zeit als wichtige journalistische Aufgabe erfasst— redigierte und aktuell gehaltene Verzeichnisse von Qualitäts-Twitterern sind dafür eines der wichtigsten Beispiele. Ich notiere mir für die spätere Lektüre: Twitter: Rea-list/Idea-list und Fort Hood: A First Test for Twitter Lists von Megan Garber; Why I don’t use Google Reader anymore und The chat room/forum problem von Robert Scoble. Twitter ist das bisher wichtigste und interessantes Werkzeug für Echtzeit-Information und Echtzeit-Dialog. Wenn man sich mit der Zukunft der Nachrichten beschäftigt, kann man von den Twitter-Gründern wahrscheinlich mehr lernen als von einem Rupert Murdoch.

Clay Shirky streicht in einem Gespräch mit Laura Flanders heraus, dass Twitter die Weiterentwicklung des eigenen Service weitgehend den Usern und anderen Unternehmen überlässt, die auf die Twitter-Daten frei zugreifen können. Auch für Shirky ist Twitter das Beispiel für einen webbasierten Nachrichten-Service. (In dem Interview geht es auch um wichtige andere Themen, vor allem darum, wie internetbasierte Organisationen in die reale Welt z.B. der Politik eingreifen können, um dort real value zu schaffen. Shirky fordert ein Pendant zu den Creative Commons für Online-Aktivismus, also neue politische und soziale Organisationsformen.)

Multimediale Innovation bei der New York Times

Um eine andere Art von innovativem Journalismus geht es in dem aufwändigen Innovation Portfolio, das die New York Times vor allem ihren Anzeigenkunden präsentiert. In ein Flash-Movie sind Demos von Multimedia-Geschichten, aber auch der iPhone-App der NYT eingebettet. Dabei erfährt man, wieviele (meist mehrere Millionen) Besucher sich mit dem Feature beschäftigt haben, und wie lange sie deshalb auf der Site geblieben sind—wesentlich länger als für die Lektüre gewöhnlicher Artikel. Auch hier stellt sich die Frage, ob und wie in solche Features Echtzeit-Informationen integriert werden können, ob sie also zu lebenden Einheiten werden können.

Welche Faktoren fördern Innovationen in den Redaktionen?

Die Änderungen in der News-Landschaft verlangen ein radikales Umdenken auf allen Ebenen, der der Verlage und Medienhäuser, der der Redaktionen und der der einzelnen Journalistin und des einzelnen Journalisten. Steen Steensen schreibt im Online Journalism Blog über Five factors that foster innovation in the online newsroom. Damit fasst er eine eigene ethnographische Untersuchung zusammen, die er beim norwegischen Dagbladet unternommen hat, und verlinkt einige wissenschaftliche Arbeiten über Innovationsmanagement in Redaktionen. Fünf Faktoren entscheiden, so Steensen, darüber, ob sich Innovationen in Redaktionen durchsetzen:

  1. Newsroom autonomy: are innovative projects initiated and implemented within an autonomous newsroom and with relative autonomy within the online newsroom? (If not, the project is less likely to succeed)
  2. Newsroom work culture: does the online newsroom reproduce editorial gatekeeping or are alternative work cultures explored? (reproduction of “old media” work cultures is likely to prevent innovative initiatives from being successful)
  3. The role of management: is newsroom management able to secure stable routines for innovation?
  4. The relevance of new technology: is new technology perceived as relevant, i.e. efficient and useful? (New technology can be costly and time consuming to utilize)
  5. Innovative individuals: is innovation implemented and understood as part of the practice of journalism?

Social media workflow für Journalisten

Den veränderten Alltag von Journalisten, die zu einem social media workflow gefunden haben, beschreibt Karl Schneider von der Reed-Gruppe im ersten von 2 videos: How social media changed the journalist’s day; and making money from content. Die dazu gehörende Präsentation ist ebenfalls online:

Die journalistische Arbei, so Schneider, wird in Zukunft zu 80% öffentlich stattfinden—Journalisten agieren vor und mit ihrem Publikum (Jay Rosens People Formerly Known as the Audience), sie liefern ihm nicht vor allem abgeschlossene Produkte.

Twitter und Google als Vorbilder

Zurück zur Paid-Content-Debatte: Vielleicht verdeckt sie vor allem viel tiefgreifendere Verschiebungen als die vom bezahlten Produkt zu freien oder werbefinanzierten Inhalten.Wer nach Geschäftsmodellen sucht, die im Internet funktionieren, muss sich wohl gerade im Journalismus zuerst um Angebote kümmern, die internet-gerecht sind— wie es Twitter (bisher ohne Geschäftsmodell) und Google (mit einem ser erfolgreichen, aber lange nach dem Produkt entdeckten Geschäftsmodell) vormachen.

Ich habe im Unterricht schon oft im Anschluss an Jay Rosen von den People Formerly Known as the Audience gesprochen: den Leuten, die bisher Adressaten von Medien waren und die nun selbst weltweit publizieren können, wenn sie nur ein Handy haben. Bisher habe ich aber nicht berücksichtigt, dass sich durch die Online-Medien nicht nur die Beziehungen zwischen Sendern und Empfängen ändern, sondern auch die Beziehungen unter den bisherigen Empfängern. In den letzten Tagen bin ich auf mehrere Versuche gestoßen, diese Beziehungen zu beschreiben und vor allem: sie zu organisieren.

Am interessantesten und fortgeschrittensten: Cody Browns Post A Public Can Talk To Itself: Why The Future of News is Actually Pretty Clear. Cody Brown, ein New Yorker Undergraduate-Student, beruft sich auf den Gründer der New York Times, der es als Aufgabe seiner Zeitung sah, Nachrichten wiederzugeben, statt sie für andere zu machen. In seinem ausführlichen und komplexen Beitrag fordert er News-Werkzeuge, die es dem früheren Publikum ermöglichen, selbst in organisierter Form Nachrichten auszutauschen. Ein Vorbild: die Wikipedia, in der sich Autoren mit unterschiedlichen Positionen untereinander auf Formulierungen einigen. Cody Brown entwickelt mit einem Team ein solches Tool, das im kommenden Frühjahr veröffentlicht werden soll: Kommons.

Auf Cody Brown bin ich durch die Folge 31 von Rebooting the News gestoßen: Dave Winer und Jay Rosen unterhalten sich mit ihm und interpretieren sein Konzept.

Cody Brown zieht mit Kommons Konsequenzen aus Überlegungen, die bei Jay Rosen immer wieder auftauchen, ausführlich in Audience Atomization Overcome: Why the Internet Weakens the Authority of the Press. In diesem Post sieht er die Atomisierung des Publikums als notwendiges Gegenstück zur Macht der Presse, einerseits Debattenthemen zu definieren und andererseits festzustellen, welche Themen so selbstverständlich sind, dass sie nicht diskutiert werden dürfen oder müssen. Rosens und Browns schematische Beschreibungen des Gatekeeper-Journalismus sind ähnlich, aber nicht identisch; Rosen geht es eher um die Inhalte, Brown eher um die Arbeitsweise der news organizations.

Schließlich noch ein Hinweis auf eine plakative, aber instruktive Darstellung des veränderten Beziehungsgeflechts zwischen neuen und alten Medienmachern—Clay Shirky spricht darüber in seinem TED-Vortrag im Juni 2009. Seine Präsentation kann man sich wie eine Einführung zu den Überlegungen Rosens und den praktischen Konsequenzen Browns ansehen:

Die Vogelperspektive ist Shirky, Rosen und Brown gemeinsam. Aber sie alle, am meisten wohl Brown, suchen nach einer Konkretisierung dieser Ideen im entstehenden Realtime Web.

Christiane Schulzki-Haddouti erweitert in “Haltung” als journalistische Kernkompetenz ihren Katalog journalistischer Kerkompetenzen. Eine Haltung unterscheide Journalisten von PR-Leuten:

Dass Journalismus ohne “Haltung” überhaupt nicht möglich ist, zeigt ein einfacher Vergleich von journalistischer und auf Public Relations ausgerichteter Arbeit. Beide greifen auf die fünf Kernkompetenzen gleichermaßen zurück. Es besteht überhaupt kein Unterschied. Gleichwohl müssen sich beide voneinander abgrenzen. Denn sonst ginge das Vertrauen der Rezipienten verloren. Und für diese Abgrenzung ist einzig und allein “Haltung” erforderlich.

Sie stellt dann fest:

Haltung hat etwas mit “aufrechtem Gang” zu tun, den die Bürger im 19. Jahrhundert mühesam einübten.

Schließlich fragt sie, warum man die Frage nach der Vereinbarkeit von Journalismus und PR—im Studium oder in der eigenen Praxis—nicht als ethische Frage stellt:

Angesichts der immer wieder aufflammenden Debatte um das Verhältnis zwischen PR und Journalismus, uneinheitlichen Berufskodizes sowie Studiengängen, die beides vermitteln, frage ich mich, warum man dies nicht direkt als ethisches Problem thematisiert – und von dieser Perspektive her direkt angeht.

Ich habe schon mehrfach auf Christiane Schulzki-Haddoutis Ansatz zurückgegriffen, um so etwas wie ein Leitbild für unsere Ausbildung von Journalisten und PR-Leuten zu formulieren, und ich verwender sie auch bei der Neuformulierung des Social Media-Teils unseres Curriculums. Bisher bin ich nur davon ausgegangen, dass man über die erwähnten Kompetenzen hinaus zwischen den Rollen und Aufgaben von Journalisten und PR-Leuten unterscheiden muss. Zu diesen Rollen gehört aber—und das ist der wichtigste neue Gedanke in Christianes Beitrag—eine bestimmte Ethik, die man allerdings nicht mit allgemeinen ethischen Prinzipien gleichsetzen sollte, wie sie für jede Art von Kommunikation gelten.

David Barstow über journalistische Ethik

David Barstow von der New York Times hat während des Elevate-Festivals einen Workshop an unserem Studiengang gehalten. Barstow_small Dabei hat er gleich zu Beginn die Ethik als Kern des Journalismus bezeichnet. Die journalistische Ethik sei der wichtigste Inhalt einer journalistischen Ausbildung. Techniken, Schreiben, Storytelling, investigative Methoden könne man mehr oder weniger leicht erlernen. Die ethische Haltung müsse man sich selbst aneignen und aufrechterhalten, und zwar oft gegen heftige Widerstände.

Die ethische Haltung lässt sich für Barstow nicht von den journalistischen Techniken ablösen, sie ist die Voraussetzung dafür, dass das journalistische Handwerk richtig und erfolgreich ausgeübt wird. Die Haltung erlaubt es dem Journalisten, gegenüber sich selbst, gegenüber den Menschen, die ihm nahe stehen („your mum“), gegenüber den Informanten, den Vorgesetzten und seinen Gegnern so zu handeln, dass er verlässlich, verständlich, berechenbar bleibt. Bereits kleine Unsicherheiten und Fehler belasten die journalistische Arbeit, führen zu Zweifeln an der eigenen Rolle und machen die Geschichten, die der Journalist schreibt, ungenauer.

Am wichtigsten ist die ethische Haltung des Journalisten gegenüber Informanten, die sich in Gefahr bringen, wenn sie einem Journalisten etwas erzählen. Die Informanten müssen sich darauf verlassen können, dass die Journalistin oder der Journalist mit ihren Informationen korrekt umgeht und sie als Personen schützt. Der Journalist muss darüber hinaus den Informanten wie einen Mitarbeiter gewinnen. Die Quelle ist dann am besten, wenn ihr Name veröffentlicht werden kann und sie selbst dafür geradesteht, dass stimmt, was sie mitgeteilt hat.

Barstow lehnt es nicht nur ab, sich auf einzelne „whistleblowers“ zu verlassen. Wenn eine Quelle anonym bleiben will und ein Journalist nicht auf sie verzichten will, soll dieser Schritt ausdrücklich vollzogen und seine Bedeutung formuliert werden. Der Journalist muss dem Informanten feierlich mitteilen: „Ich werde für Sie notfalls ins Gefängnis gehen!“ Der Informant soll wissen, dass seine Information für den Journalisten ein Risiko bedeutet, und sie muss es selbst mitverantworten, dass der Journalist dieses Risiko eingeht.

Jpr_small Die Überzeugung, ethisch richtig zu handeln, gibt der Journalistin oder dem Journalisten die Kraft, ihre Arbeiten gegen heftige Widerstände zu verfolgen. „Fight like hell for your story!“ sei die einzig richtige Devise, wenn Vorgesetzte die Arbeit an einer Geschichte abbrechen wollten, von der der Journalist überzeugt sei.

Barstow hat uns klargemacht, wie viel Energie nötig ist, um etwas an den Tag zu bringen, was aus gutem Grund unter der Decke gehalten wurde. Der Journalist ist sich lange nicht sicher, ob er überhaupt auf der richtigen Spur ist; er und seine Informanten werden eingeschüchtert oder bedroht; seine Redaktion unterstützt ihn vielleicht nicht; sein Familienleben leidet, weil sich intensive Recherchen nicht in Achtstundentagen bewältigen lassen. Diesen Widerständen erliegt der Journalist, wenn er nicht daran glaubt, das Richtige zu tun und an einer Geschichte zu arbeiten, auf die er lange stolz sein kann, die nicht im Tagesschäft untergeht („I didn’t like doing the crap stories“).

Eine ethische Haltung bestimmt nicht nur, welche Ziele ein Journalist verfolgt, sondern auch, mit welchen Mitteln er arbeitet. Die Mittel dürfen das Ziel nicht diskreditieren, sie dürfen der Rolle des Journalisten nicht widersprechen und ihn gegenüber anderen und vor allem gegenüber sich selbst unglaubwürdig machen. Barstow hat 9/11 direkt vom Ground Zero berichtet und sich als Security-Mann ausgegeben, um in die streng abgesperrte Sicherheitszone zu kommen. Er ist sich bis heute nicht sicher, ob dieses Versteckspiel moralisch erlaubt war.

Aufdecken als journalistische Aufgabe

Beim Lesen von Christianes Posting ist mir David Barstows Vortrag sofort eingefallen. Barstow hat die Haltung beschrieben, die Journalisten von anderen professionellen Kommunikatoren unterscheidet. Diese Haltung ist keine persönliche Qualität, die ausschließt, dass ihr Träger andere Qualitäten und Eigenschaften hat. Sie wird von einem Job gefordert, so wie ein Leistungssportler eine bestimmte Moral braucht, um weitermachen zu können. Ob man diese Haltung haben und gleichzeitig PR machen kann, ist wohl keine Frage der moralischen Unverträglichkeit sondern der persönlichen Leistungsfähigkeit.

Barstow verkörpert ein Verständnis der Rolle des Journalisten, das man in Europa nur selten in dieser Schärfe findet: Journalisten kontrollieren die Mächtigen, indem sie für die demokratische Öffentlichkeit Dinge publizieren, die aus unethischen Gründen geheimgehalten werden. Die dazu erforderliche Haltung unterscheidet Journalisten von PR-Leuten: Journalisten müssen Rebellen sein.

Das bedeutet nicht, dass Journalisten bessere Menschen sind als PR-Leute. Eine Gesellschaft, die nur aus Rebellen besteht, wäre wahrscheinlich kein sehr angenehmer Platz, schon gar nicht für die Rebellen. Es bedeutet auch nicht, dass PR- oder Marketing-Leute keine Rebellen sein können—das Cluetrain Manifest ist ein Gegenbeweis. Aber zur Ethik der PR gehört nicht das Aufdecken von Informationen gegen alle Widerstände.

Noch eine Bemerkung zu diesem Thema, mit dem ich mich weiterbeschäftigen möchte: Die Krise des Printjournalismus ist dramatisch, weil sie den investigativen Journalismus, wie ein David Barstow mit der Unterstützung der New York Times betreiben kann, gefährdet. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, diesen Journalismus zu erhalten und seine Unabhängigkeit zu schützen. Dazu gehört es auch, ihn in der Ausbildung von Journalisten zu verankern, statt ihn einer falsch verstandenen „Wirtschaftsnähe“ zu opfern.

(Leider habe ich nur die beiden unscharfen Handy-Fotos von David Barstows Auftritt bei uns. Ich hoffe, sie vermitteln wenigstens etwas von der Stimmung an einem der spannendsten Tage an unserem Studiengang.)

Viel Neues fällt mir nicht ein zu der Debatte, die Armin Thurnher durch seinen ISPA-Auftritt und seinen Leitartikel wieder angefacht hat— Helge und viele andere haben genug Antworten gegeben. Ich hatte vermutet, Thurnher würde das Thema nicht mehr aufgreifen, um sich nicht weiter zu demontieren. Aber er nimmt einer Szene, die den Falter ernst nimmt, übel, dass sie dessen Chefredakteur nicht mehr ernst nimmt—jedenfalls nicht, wenn er sich über das Internet äußert, über das er—Entschuldigung !—losschwadroniert, als könne man es (deliberativ) in den Griff bekommen, indem man ausmacht und diskutiert, wieviel an ihm gut und wieviel schlecht ist.

Thurnher schreibt lieber (und besser) über Thurnher als über das Web; er inszeniert sich theatralisch als Opfer einer Hetzmeute und als Sachwalter der Aufklärung. Helge vergleicht ihn mit einem spätmittelalterlichen Abt (und denkt vielleicht an Johannes Trithemius, dessen gedruckte Polemik gegen den Buchdruck Clay Shirky aufgriff). Aus meinem Studium fallen mir Gottsched und der Sturm und Drang ein—ich weiß nicht, wie weit der Vergleich trägt.

Schade finde ich, dass Thurnher seinen Kritikern nicht seine Augenhöhe zutraut, dass er ihnen nicht einmal Artikulationsfähigkeit zuspricht: Sie blöken und jaulen. Und weil sie als Masse den großen Einzelnen Thurnher verfolgen, werden auch nur die wenigsten namentlich erwähnt. Wer sich nur akklamativ statt deliberativ äußert, wird auch als Quelle nicht verlinkt. (Helge hat es allerdings geschafft, den Falter zum Print-Linkjournalismus zu bewegen—hoffentlich nicht nur bei seiner Antwort auf Thurnher.) Thurnher fordert den Diskurs, aber er spricht nicht mit seinen Kritikern, sondern polemisiert über sie.

Wenn ich es richtig sehe, gehöre auch ich zu den implizit Erwähnten. Thurnher wirft mir vor, ich traue ihm nicht zu Blogs zu lesen. Für den Fall, dass er diesen Beitrag findet, empfehle ich ihm das Cluetrain Manifesto, vor allem die Sätze 3 und 4:

Conversations among human beings sound human. They are conducted in a human voice.

Whether delivering information, opinions, perspectives, dissenting arguments or humorous asides, the human voice is typically open, natural, uncontrived.

Wir suchen einen Dialog mit menschlicher Stimme. Es liegt auch an Armin Thurnher, ob er zustande kommt.

Wer wissen will, wie die Zukunft von Hauptstadtzeitungen aussehen kann—besser: was im Web an ihre Stelle treten kann— muss Michael Wolffs Artikel über Politico in Vanity Fair lesen. Ein paar Newsprofis haben Politico während der Obama-Kampagne gegründet. Die Site konzentriert sich auf die Berichterstattung über das politische Washington. Dabei wird nahezu in Echtzeit eine Unmenge an Informationen geliefert, die die Site und ihre Reporter zu einer Quelle für viele andere Medien machen. Politico hat sich dem verschrieben, was man in den USA beat reporting nennt. Der Beat sind hier die Aktivitäten der politischen Klasse in der amerikanischen Hauptstadt. Die Site ist inzwischen ein Must für amerikanische Politik-Interessierte; sie finanziert sich halbe/halbe aus Anzeigenerlösen und dem Verkauf einer Printversion. Die Online-Version erreicht 6,7 Millionen Unique Clients im Monat; die Printversion erzielt—dank der Bekanntheit der Site und der medialen Präsenz der Reporter—7,5 Millionen Dollar Anzeigenerlöse im Jahr bei einer Reichweite von nur 32.000.

Ich will Wolffs Geschichte hier nicht referieren. Passagen wie die Einleitung und der Schluss über die Unzeitgemäßheit der Allgemeinen Zeitung im 21. Jahrhundert oder die Darstellung des Wettbewerbs zwischen den Washingtoner Verlegerfamilien verdienen, dass man sie im Original liest. Ich möchte nur auf drei Punkte hinweisen, die ich so noch nie formuliert gefunden habe—trotz der Flut an Artikeln über Untergang oder Zukunft der Zeitungen:

  1. Politico ist eine Site von Journalisten, die die besten Kenner ihres Themas sind. Allen Unkenrufen vom Ende des Journalismus zum Trotz findet kompetenter Fachjournalismus ein Publikum, selbst wenn es um die Interna einer Administration geht, die in den vergangenen Jahren angegeblich niemand interessiert haben.

  2. Politico ist keine Online-Zeitung mit umfassendem redaktionellen Programm. Die Website ist monothematisch, aber sie behandelt ihr Thema gründlicher und genauer als die Konkurrenz. Genau das passt ins Web, in dem sich Benutzer ihre Quellen selbst zusammenstellen können.

  3. Politico konzentriert sich auf eine internettypische Berichterstattung: Die Reporter berichten in Echtzeit, filtern kaum und suchen sich ihre Themen selbst. Publish first, edit after! Auf die Arbeitsgänge und Aufgabenverteilung einer klassischen Redaktion verzichtet die Site. Wichtig sind zeitliche, räumliche und persönliche Nähe zum Geschehen.

Politico ist die erfolgreich verwirklichte Antithese zu dem Verlegertraum, man könne dieselben Inhalte über beliebige Plattformen abspielen. Politico funktioniert nur durch das Netz, auch wenn die von der Online-Ausgabe abgeleitetet Special Interest-Printversion für die Hälfte der Einkünfte geradesteht.

In Wolffs Artikel wirkt Politico wie ein vervielfachter Rober Scoble, der sich mit Politik statt mit dem Web beschäftigt. Offenbar bereiten Helmut Markwort und seine Kollegen einen Relaunch des Focus vor. Sie sollten sich an Politico orientieren.

(Zum Geschäftsmodell von Politico siehe auch dieses Post Rex Hammocks [via Steve Rubel].)

chairman burdaImage by couchpotatoes via Flickr

Ich möchte mich nicht lange mit der Debatte um Leistungschutz (= Raubritterzoll für Verlage) und Schutz der Journalisten vor Google (= Sicherung ihres Gatekeeper-Anspruchs) beschäftigen. Ich glaube, dass dort intellektuell wenig interessante Nachhutgefechte geführt werden—so wichtig es ist, dass die Freiheit im Netz nicht weiter eingeschränkt wird. Der VDZ, der DJV und ihre Vorsitzenden haben ein ganz schlichtes materielles Interesse, und dafür treten sie ein wie seinerzeit Arbeitgeber und Arbeitnehmer an der Ruhr für die Erhaltung des unwirtschaftlichen Bergbaus. Da man nicht gut sagen kann, dass man von der Gesellschaft geschützt und subventioniert werden möchte, weil man sich nicht umstellen kann oder will, beruft man sich auf höhere Ziele: damals an der Ruhr auf die Sicherung der nationalen Energieversorgung, heute auf die unersätzliche Funktion des Journalismus in der Demokratie. Und damit das Ganze medial richtig hochgekocht werden kann, macht man—mit Vorliebe ausländische—Feinde aus: damals die Ölscheichs, heute Google—die Datenkrake, wie sie das zeitgenössische Wörterbuch der Gemeinplätze bezeichnet.

Mir fällt diese Sommerloch-Debatte ein, weil ich gerade die Vorversion einer (von mir betreuten) Diplomarbeit Birgit Bröckels über journalistische Aspekte der Suchmaschinenoptimierung lese. Birgit Bröckel beschäftigt sich im Detail damit, wie eine Journalistin Texte so redaktionell bearbeiten kann, dass die Benutzer sie via Suchmaschine auch finden. Sie resümiert:

Suchmaschinenoptimierung ist Useroptimierung.

Diese Arbeit—übrigens im Auftrag eines Verlags geschrieben—zeigt, was Google tatsächlich mit journalistischen Angeboten tut: Mit allen Mitteln und einer ständig weiterentwickelten Technik herauszufinden, welche von ihnen am besten eine Frage beantworten, die die User haben. Suchmaschinen gehen dabei subtil vor, wie jeder merkt, der sich etwas mit Suchmaschinenoptimierung beschäftigt. Dass Google zur Killerapplikation (Hubert Burda) geworden ist, liegt nicht an einem Bündnis mit dunklen Mächten, sondern daran, dass es so objektiv ist und—bei aller möglichen Kritik—sicher unabhängiger von Anzeigenkunden ist als die Verleger, die sich jetzt zu Hütern der Pressefreiheit erklären.

Wenn einstürzende Medienhäuser gegen Google kämpfen, meinen sie die Autonomie der Nutzer: Google ist vor allem ein Instrument, mit dem sie gezielt Fragen stellen können. Was die Verlage stört—und was sie im Netz tatsächlich überflüssig macht— ist, dass sich die Nutzer ihre Informationsangebote selbst zusammenstellen können. Hubert Burda, der es besser weiß, ist nicht dafür zu beneiden, dass er in der FAZ für seinen Verband schreiben muss:

Verlage […] brauchen die Sicherheit, dass ihnen das ausschließliche Recht auf Vervielfältigung, Verbreitung, öffentliche Wiedergabe und öffentliche Zugänglichmachung für Presseerzeugnisse zusteht, und das muss auch für digitale Medien gelten.

Mit derselben Logik (es war immer so …) hätten die Eisenbahnen fordern können, Autostraßen und Flughäfen zu verbieten, um das auschließliche Recht zu behalten, Menschen und Güter über weitere Strecken zu transportieren.

Google wird für seine Leistungen bezahlt—weil Menschen auf die Anzeigen klicken, die Google ihnen aufgrund seiner Technologie gezielter anbieten kann, als das bei traditioneller Werbung möglich ist. Google verdient viel Geld, weil die Nutzer seiner Technologie trauen—wer daran etwas ändern, also: mitschneiden, möchte, sollte sich auch auf anderen Gebieten dafür aussprechen, Erfolg zu bestrafen. Wenn die deutschen Verleger Google als ein Risiko für die Transparenz im Netz (Hubert Burda) ansehen—warum gründen sie nicht selbst eine Suchmaschine, die dank des Engagements ihrer Betreiber für objektive Information transparenter und benutzerfreundlicher arbeitet als Google? Gerade Burda zeigt mit fitter.de, dass es hier Potenziale jenseits von Google gibt. Die VDZ-Suchmaschine als Google-Alternative (News-Suche sponsored by DJV …): Damit könnten die Verleger sogar die Piratenpartei hinter sich bringen!

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Prozessjournalismus ist wie Linkjournalismus ein Schlüsselbegriff, um zu erkennen, was Online-Journalismus vom Journalismus für den Druck oder Rundfunk und Fernsehen unterscheidet.

Journalistische Medien außerhalb des Web sind an feste Veröffentlichungszeitpunkte gebunden, zu denen eine Geschichte fertig sein muss. Selbst wenn ein Nachrichtensender 24 Stunden journalistisch berichtet, kann er zu einem bestimmten Zeitpunkt nur eine Geschichte bringen und muss so gut wie möglich zusammenfassen, um was es geht. Der Platz in der Zeitung oder die Sendeminute ist teuer; nur die wichtigsten und hoffentlich auch am besten überprüften Informationen können veröffentlich werden. Die Journalisten müssen also recherchieren, die Informationen aufbereiten und redigieren, bevor sie publizieren.

Im Web kostet das Publizieren fast nichts, die Geschichten werden auch von den Lesern zusammengestellt und — z.B. durch Kommentare — ergänzt, es können beliebig viele Informationen gleichzeitig gebracht werden. Die Informationen lassen sich nichtlinear miteinander verknüpfen; sie sind nie wirklich abgeschlossen. Nicht wieviel Platz oder vieviel Zeit zur Verfügung steht, bestimmt, was veröffentlicht werden kann, sondern die Aufmerksamkeit der Benutzer. (Vielleicht kann man sagen: Der Schlüsselfaktor ist nicht die Zeit, die das Medium, sondern die Zeit, die die Benutzer haben.)

Jeff Jarvis fasst in einer Grafik zusammen, wie Journalismus als Prozess aussieht:

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Die Grafik stammt aus Jarvis‘ Post Product v. process journalism: The myth of perfection v. beta culture. Darin stellt Jarvis nicht nur dar, was Prozessjournalismus ist, sondern er beschäftigt sich auch mit seinen Implikationen, bis hin zu Walter Lippmans Unterscheidung von Nachrichten und Wahrheit:

If we assume that news and truth are two words for the same thing we shall, I believe, arrive nowhere.

Zwei neue deutschsprachige Blogposts erläutern den Begriff Prozessjournalismus: Produktjournalismus vs. Prozessjournalismus von Thomas Knüwer und Was ist Process Journalism? von Marcus Bösch.

Hintergrund dieser Posts ist eine Debatte über die journalistischen Methoden von Tech Bloggern, die die New York Times mit einem — journalistisch fragwürdig recherchierten — Artikel ausgelöst hat. Darin wird unter anderem Michael Arrington vorgeworfen, aus purer Sensationsgier Gerüchte zu publizieren, etwas über den angeblichen Verkauf von Twitter an Apple. Arrington hat sich energisch gegen diese Vorwürfe gewehrt und spricht von der Morality And Effectiveness Of Process Journalism. Das National Public Radio hat Arrington zu der Debatte interviewt:

(Transkript des Interviews hier)

Ich möchte mich in weiteren Posts damit beschäftigen, was Prozessjournalismus ist und welche journalistischen Formate zu ihm passen. Im Prozessjournalismus wird der gesamte Rechercheprozess transparent; die Leser können genau verfolgen, wie eine Aussage zustandekommt. Damit folgt der Prozessjournalismus dem journalistischen Objektivitätsideal weit mehr, als es seine Verleumder tun. Es ist zwar möglich, Informationen zu publizieren, die nicht mit einer anderen Quelle verifiziert werden konnten, aber es wird immer deutlich, worauf sie beruhen. Damit werden die chains of reference, von denen Bruno Latour in der Hoffnung der Pandora spricht, nachvollziehbar: Prozessjournalismus ist wissenschaftlichen Methoden näher als der klassische Journalismus, dessen Verifikationskonzept eher an juristische Verfahren erinnert.