Ich wollte heute über die neue Site des Weißen Hauses schreiben, aber es ist darüber schon so viel publiziert worden, dass es mir noch nicht gelungen ist, die interessantesten Posts zu der Site auch nur zu lesen. Da ich nicht naiv drauflosschreiben möchte, hier vor allem ein paar Hinweise.

Trotzdem kurz meine persönliche Meinung: Ich finde wie Dave Winer die Site enttäuschend. Vom Anspruch auf Wechsel ist nicht viel zu merken. Man kann nicht kommentieren, und man kann auch nicht anders teilnehmen. Winer hat recht, wenn er schreibt, dass vor dem Auftritt ein Schild mit der Aufschrift Bitte warten! zu hängen scheint, und wenn er von corporate cowardice (das könnte man mit Firmen-Feigheit übersetzen) spricht.

Mich stört am meisten, dass die Site nicht aktuell ist. In den ORF-Nachrichten heute habe ich wesentlich mehr über den ersten Tag Obamas im Amt erfahren als auf der Site des Präsidenten. Das ist schwer zu begreifen.

Allerdings wird schon angekündigt, dass Gesetzesvorhaben auf der Site diskutiert werden sollen:

One significant addition to WhiteHouse.gov reflects a campaign promise from the President: we will publish all non-emergency legislation to the website for five days, and allow the public to review and comment before the President signs it [The White House – Blog Post – Change has come to WhiteHouse.gov].

Offenbar hat ein neues Team die Site erstellt, nicht die Agentur, die noch hinter Change.gov. stand (siehe das unten verlinkte Post von Tim O’Reilly). Vieles ist nicht fertig, nicht einmal das Registrierungsformular. Dass die Site mit Microsoft-Software betrieben wird, trägt irgendwie zu dem Eindruck bei, dass es sich um eine Auftragsproduktion handelt und nicht um ein Kommunikationsmittel.

Reaktionen auf die neue Site

Die treffendste Analyse stammt aus meiner Sicht von Dave Winer — The White House website:

But whitehouse.gov violates the most basic rule — „People come back to places that send them away.“ The White House should send us to places where our minds will be nourished with new ideas, perspectives, places, points of view, things to do, ways we can make a difference. It must take risks, because that is reality — we’re all at risk now — hugely.

Winer verweist auf die Artikel bei Spiegel Online (ausführlich, viele weitere Quellen) und in der New York Times, die wiederum einige interessante Stimmen zitiert.

Positives Feedback gibt es von Tim O’Reilly:

Not only did the Web 2.0 principles of user-engagement, viral outreach, rapid development, and real-time intelligence help Obama to win the presidency, he’s bringing the same principles and the same team to manage his outreach during his time in office [change.gov Becomes whitehouse.gov – O’Reilly Radar].

Jason Kottke hat sofort festgestellt, dass — im Gegensatz zum bisherigen Auftritt — alle Inhalte für Suchmaschinen zugänglich sind: The country’s new robots.txt file.

Ein Signal der Veränderung ist es übrigens, dass sich die Mainstream-Medien sofort mit der neuen Site beschäftigten. Als Mittel der Repräsentation von Politik hat das Web die anderen Medien inzwischen eingeholt.

Heute ist Inauguration Day. Seit der Wahl François Mitterrands 1981 habe ich mich nicht mehr so über ein Wahlergebnis gefreut wie über die Wahl Obamas. (1981 war ich in Paris und konnte abends selbst mit auf der Bastille feiern.) Nicht nur deshalb ein paar Bemerkungen zu Obama: Welche Auswirkungen könnte seine Regierung auf das Internet und die Online-Medien hier bei uns haben?

Obama wird die Internetwirtschaft energisch förden; die Sicherung der Neutralität des Netzes und ein schneller Internetzugang für alle Bürger gehören zu seinen wichtigsten Zielen. Die europäischen Länder werden sich anstrengen müssen mitzuhalten, und auch hier wird mehr Geld in den Ausbau der Infrastruktur und die Internetwirtschaft fließen. Aber nicht nur damit dürfte die neue Administration auch Europa Inpulse geben. Sie wird auch bewirken, dass die Funktionen des Internet für die Öffentlichkeit in Europa besser verstanden werden.

Obama wäre ohne das Internet nicht gewählt worden — nicht nur, weil YouTube, facebook und Twitter wichtige Instrumente seiner Kampagne waren, sondern weil seine zentrale Botschaft in das Internet-Zeitalter gehört: Politik kann in direktem Dialog mit der Bevölkerung stattfinden; die eingerosteten Apparate der Repräsentation (Parlamentarismus, Massenmedien) haben kein Monopol mehr auf die politische Kommunikation.

Gestern hat AFP publiziert, dass die für den Übergang eingerichtete Website Change.gov ab heute abend unter whitehouse.gov erreichbar sein wird.

The new whitehouse.gov is expected to be the window for what is being touted as a bold experiment in interactive government based largely on lessons learned during the most successful Internet-driven election campaign in history [AFP: Change.gov coming to the White House].

Wenn die amerikanische Regierung das Web als politisches Kommunikations- und Entscheidungsinstrument benutzt, wird man Forderungen nach eine Wiki-Politik und nach Publikation aller für die Regierung und Verwaltung wichtigen Dokumente und Vorgänge im Web auch hier nicht mehr als exotisch abtun können. Der Druck auf Einsicht durch die Bürger und Mitentscheidung durch die Bürger jenseits der Parteibürokratien wird zunehmen. Damit würden nicht nur demokratische Rechte verwirklicht; Politik und öffentliche Verwaltung würden vor allem effizienter, schneller und sachgerechter arbeiten.

Das Gegenargument liegt auf der Hand: Obama werde nicht umsetzen, was er versprochen hat. Schon die Besetzung seiner Regierung zeige, dass er ähnlich regieren werde wie seine Vorgänger. Ich glaube, dass dieses Argument zu billig ist (und ich hoffe, dass ich nicht enttäuscht werde). Obama muss zu unorthodoxen Mitteln greifen, weil die Amerikaner so viel von seiner Regierung erwarten und weil die wirtschaftliche Lage so schwierig ist. Er hat viel vom Internet verstanden und muss es intensiv verwenden, wenn sich seine Regierung nicht sehr schnell abnutzen soll.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass wie in vier Jahren in Österreich noch so groteske Diskussionen führen wie die über das Scheiß-Internet oder darüber, ob man das Internet als Medium ernst nehmen könne.

Ernst Sittinger widmet der Auseinandersetzung über den Rektor der FH Joanneum heute einen Bericht und einen Kommentar. Als Mitglied des Kollegiums der FH finde ich es ärgerlich, dass sich dieses Gremium bisher überhaupt noch nicht zu Wort gemeldet hat, und diesem Ärger mache ich wenigstens hier Luft: Die gewählten Vertreter der Lehrenden und der Studenten schaffen es nicht, in einer so brisanten Situation Position zu beziehen und die Öffentlichkeit auf ihre Seite zu bringen. Dabei wäre nicht einmal schwer. Aber in eingeübter obrigkeitsstaatlicher Haltung duckt man sich, wartet ab, was die da oben machen, jammert darüber und richtet es sich und klagt laut, wenn etwas in die Presse kommt.

Politiker, Interessenvertreter und Beamte positionieren sich auf Kosten der Hochschule. Man hat nicht so viel zu regieren und eigentlich auch nicht das Geld dazu, da möchte man wenigstens über eine Fachhochschule bestimmen. (Von diesem Vorwurf nehme ich die Landesrätin aus, die versucht, eine hochschulgerechte Lösung zu finden.) Sicher ist es schwer, in einem solchen Umfeld hochschulische Autonomie durchzusetzen. Zunehmend habe ich aber den Eindruck, dass die meisten an der FH das gar nicht wollen. Sie wollen, dass man ihnen sagt, wo’s lang geht, und darauf müssen sie wohl nicht mehr lange warten.

Gestern abend habe ich am Wahlkampf-Auftakt der ÖVP teilgenommen. Er bot Willi Molterer die Bühne für eine große Motivationsrede an seine Partei. Die Veranstaltung fand in Helmut-List-Halle in Graz statt. (Berichte: Walter Müller im Standard, Klaus Höfler in der Presse, Claus Albertani in der Kleinen Zeitung; gebloggt hat außer mir nur Lukas Mandl, der das aber als ÖVPler tat und übrigens leider die URLs seiner Posts im RSS-Feed versteckt.) Mich hatte Alexandra Nussbaumer von der ÖVP eingeladen und diese Einladung nachmittags noch mal am Handy wiederholt.

Die ÖVP hat mich als Blogger eingeladen, und als jemand, der nicht zu Ihrer Partei gehört. Dabei ist es den zuständigen Leuten in der ÖVP sicher vor allem wichtig, dass die Szene, zu der sie mich zählt, überhaupt präsent ist. Wenn man an einer solchen Veranstaltung teilnimmt, ist man also auch Teil des Marketing oder der PR der Partei (wobei ich da meine Bedeutung nicht überschätze). Ich glaube, dass andere unabhängige Blogger nicht gekommen sind, weil sie sich nicht funktionalisieren lassen wollten, vielleicht auch, weil ihnen nicht klar ist, was sie bei einer solchen Großveranstaltung überhaupt sollen. Ich habe — nach einigem Zögern — teilgenommen, einerseits, weil mich die ÖVP nach der Teilnahme an mehreren ihrer Großveranstaltungen zunehmend interessiert und langsam zu einem meiner Themen wird, zum anderen weil ich gerne mit Leuten wie Michi Mojzis und Alexandra Nussbaumer Kontakt halten möchte, um mit ihnen über politische Kommunikation sprechen. Ich will auch nicht verhehlen, dass mir im Augenblick ein Kanzler Molterer bei weitem sympathischer wäre als ein Regierungschef im Auftrag einer Boulevardzeitung, die durch Ausländerfeindschaft, antisemitische Töne und eine gnadenlos dumpfe Anti-EU-Kampagne hervorgetreten ist.

Der Grazer Bürgermeister Nagl leitete kurz ein. Die bemerkenswerteste Aussage Nagls war, dass man Graz als Veranstaltungsort gewählt habe, weil hier eine besonders interessante politische Konstellation gelungen sei — die schwarz-grüne Koalition, die aber nicht ausdrücklich genannt wurde. Es folgte betulich der steirische ÖVP-Chef Schützenhöfer. Molterer präsentierte sich viel entschlossener und aggressiver, als ich ihn bei anderen Veranstaltungen erlebt habe; zum ersten Mal gelang ihm die Selbstinszenierung. Er konnte die versammelten ÖVP-Anhänger begeistern. Zu Beginn der Veranstaltung hatte ich — etwas betäubt durch das wilde Klatschen und die laute Musik und verwirrt von der Unmenge rot-weiß-roter Schals — den Eindruck, dass die ÖVPler angesichts schlechter Umfrageergebnisse laut gemeinsam im Wald pfiffen. Nach Molterers Rede hielten es offenbar die meisten für möglich, die Wahl tatsächlich für sich zu entscheiden.

Die wichtigsten Adressaten der Rede waren die Funktionäre. Wähler außerhalb der traditionellen Klientel stehen jetzt nicht im Fokus. Nicht nur, weil Parteien im Wahlkampf vor allem die eigene Wählerschaft mobilisieren müssen. Die aktuellen Umfragen zwingen zum Kampf um die Stammwähler, denn die ÖVP liegt weit hinter den Ergebnissen, die sie früher erreicht hat.

Andere Parteien wurden nur als Gegner erwähnt. Es fiel kein Satz über mögliche Koalitionen — außer Nagls Anspielung auf die schwarz-grüne Zusammenarbeit in Graz. Wenig verwunderlich ist, dass es der ÖVP vor allem darauf ankommt, nicht von der Macht verdrängt zu werden — Molterers Es geht um alles! war die Kernbotschaft. Programmatische Aussagen spielen im Augenblick allenfalls eine sekundäre Rolle. Betont wurden traditionelle Werte. Den beinahe lautesten Applaus bekam Molterer, als er die Bedeutung der Familie herausstrich.

Die ÖVP-Führung sucht den Schulterschluss mit der Basis und den Anschluss an ihr klassisches Wählerpotenzial; sie will sich nicht durch eine Vision profilieren. Eher aus Nebensätzen und Nebentönen lässt sich erkennen, wie wichtig die Wirtschaftspolitik für Molterer ist, und dass für ihn ein ausgeglichener Haushalt ein Hauptziel bleibt. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde die Inflation, die immer wieder zu einem Hauptthema im Wahlkampf erklärt wird, nicht mit einem Satz erwähnt.

Molterer hat betont, dass es für die ÖVP entscheidend ist, die bürgerlichen Wählerschichten zu erreichen. Mir kam die Partei auch dieses Mal viel eher ländlich, kleinbürgerlich, und vor allem katholisch geprägt als bürgerlich vor. Molterer trifft die Stimmung der traditionellen Mitte der Partei — vermutlich besser als sein Vorgänger, dem man den Vertreter des kleinen Mannes nicht so recht abnehmen konnte. Dass es auf Dauer für die ÖVP reicht, sich politisch so sehr auf ihre traditionelle Klientel zu konzentrieren, halte ich für fraglich. Die ÖVP muss Bündnisse mit anderen Gruppen oder Milieus schließen, die in Großveranstaltungen wie der gestern keine Rolle spielen.

Als jemand, der sich für Dialogmedien und neue Formen der Kommunikation interessiert, komme ich mir bei einer solchen Veranstaltung nach wie vor als Fremdkörper vor. Sie repräsentiert das, was lange für Politik gehalten wurde — und wenn zwei Wörter nicht dazu geeignet sind, dieses Verständnis von Politik zu beschreiben, dann sind es Dialog und Konversation. Eine Wahlkampfauftakt-Veranstaltung wie gestern dient der Mobilisierung von oben und nicht dazu, auf die unten, auf die vielen, zu hören. Die ÖVP würde sich nicht um kleine Gruppen wie die Blogger bemühen, wenn sie nicht selbst erkannt hätte, daß diese Form der Mobilisierung heute nicht mehr reicht, um Mehrheiten zu finden. In ihrem Wahlkampf riskiert sie neuen Methoden der politischen Organisation aber wohl noch nicht.

Gestern abend habe ich mich an einen guten Vorsatz aus dem Urlaub gehalten und nach dem Abendessen keinen Wein getrunken. Stattdessen habe ich mir im Fernsehen die Debatte zwischen Alexander Van der Bellen und Jörg Haider angesehen. Ich muss zugeben: Es ist mehr nicht ganz leicht gefallen, nüchtern zu bleiben, so öde war diese Diskussion, so langweilig diese Pflichtveranstaltung im Wahlkampf.

Nachher habe ich mich vor allem gefragt: Wer berät eigentlich den Vorsitzenden der Grünen? Van der Bellen vermittelt in allem den Eindruck, dass er nicht nur nicht mit seinem Gegenüber sprechen möchte — in diesem Fall verständlich — sondern dass er auch nicht beabsichtigt, auch nur irgendwie durch persönliche Attraktivität, durch wenigstens einen Funken von Verführungsfähigkeit Wähler zu überzeugen. Er spricht, wenn er sich nicht amtsgmäß bemüht, polemisch zu werden, unpersönlich, abstrakt, im Namen von objektiven Tatsachen: als Stimme der Wahrheit. Manchmal hat er mich an den Bundespräsidenten Fischer erinnert, zu dessen Amt es allerdings gehört, nicht als Vertreter einer Partei, einer bestimmten politischen Position aufzutreten.

Damit hat er für Haider den Raum geöffnet, den dieser dann in der von ihm gewohnten rücksichtslosen polemischen Art genutzt hat. Haider achtet sehr genau auf die Sprache, die er benutzt. Er personalisiert, drückt sich gerne dialektal aus, spricht bezogen auf ein Gegenüber, verwendet die Sprache immer wie eine plastische Masse. Er kann damit die Aufmerksamkeit der Zuschauer oder Zuhörer auf sich lenken, während Van der Bellen darum kämpfen muss, Interesse für wichtige, aber bekannte und häufig auch eher langweilige Aussagen zu erhalten.

Man kann den Vorsitzenden der Grünen damit entschuldigen daß er sich als sachlichen Gegenpol zu einem Populisten wie Haider präsentieren muß. Nur: Er erreicht damit niemanden außer der grünen Stammklientel. Jüngere Leute, mögliche Wechselwähler, Leute aus wissensorientierten Berufen, die für neue Argumente und Argumentationsstile offen sind — sie alle werden so nicht angesprochen. Der Vorsitzende der Grünen wirkt mit dieser Sprache nur auf Leute, die er auch mit schriftlichen Statements überzeugen könnte.

Ich lebe noch nicht lange in Österreich, und ich kenne die Geschichte der österreichischen Grünen nur wenig. Ich habe den Verdacht, dass diese Partei viel zu sehr im eigenen Saft kocht, viel zu sehr von der Richtigkeit ihrer Positionen überzeugt ist, um sich genug Mühe zu geben, Außenstehende, nicht schon Überzeugte, zu gewinnen — und sich von ihnen gewinnen zu lassen. Auf Entwicklungen, die neuer sind als die Partei selbst, insbesondere auf die Prozesse im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, auf die ganze Entwicklung hin zur Wissensgesellschaft, scheinen sich die Grünen auch nur sehr schwer einzustellen. Ein Christoph Chorherr kann mit seinen dialogorientierten Wahlkampfvorschlägen — oder sollte man besser sagen: Diskussionsmethoden? — die Kampagne der Grünen offenbar nur minimal beeinflussen.

Christoph Chorherr ruft zum Crowdsourcing für den grünen Wahlkampf im Sommer auf; Helge unterstützt ihn als erster aktiv. Ein paar weitere Plakatentwürfe gibt es schon — siehe die Kommentare zu Christoph Chorherrs Post. Wer Ideen und grafisches Geschick hat: bitte mitmachen! Österreich hat bessere Kampagnen verdient — und eine Regierung mit grüner Beteiligung.

Es geht nicht nur um Plakate, sondern auch um andere Medien, die man im Wahlkampf verwenden kann, z.B. Blogs. In einem Mail hat mich Chorherr gebeten:

auf Ihrem blog einen Hinweis z.B. über „wie
können blogs im Wahlkampf genutzt werden“

zu bringen. Max Kossatz hat gerade sehr gut beschrieben, wie er sich einen grünen Internetwahlkampf vorstellt. Ich bin mit meinen Ideen für Blogs und soziale Medien im grünen Wahlkampf noch nicht so weit. Ein paar Vorschläge — hoffentlich nicht zu akademisch:

Supporter-Blogs

Blogs funktionieren nur, wenn jemand authentisch spricht und etwas zu sagen hat. Sie sind als reines Instrument nicht gut geeignet, weil der Zweck der Authentizität schadet. Blogs kommen im Wahlkampf in Frage, wenn Menschen, die sich zur Wahl stellen, in ihnen mit potenziellen Wählern sprechen und sich auch in Frage stellen lassen. Sie müssen in ihren Blogs politisch diskutieren; es reicht nicht, ein Weblog als Sprachrohr zu benutzen und es nach der Wahl zu Datenmüll werden zu lassen.

Wenn ein Spitzenpolitiker nicht schon bloggt, wird er es nicht in den nächsten Wochen lernen. Aber es wäre ja auch möglich, dass Nichtpolitiker politische Blogs schreiben. Grüne Supporter-Blogs wären interessant; sie dürften nicht zensiert werden, und grüne Berufspoltiker sollten sich in ihnen, z.B. durch Kommentare, der Diskussion stellen. (Vielleicht funktionieren Social Media am besten, wenn sie von Supportern entwickelt werden, die nicht von den vorhandenen Parteistrukturen abhängen. Die Kampagnen für Dean und Obama in den USA waren ja auch keine offiziellen Parteikampagnen.)

Zielgruppen-Blogs

Social Media wie Blogs sind keine Massenmedien; sie sind nur selten dazu geeignet, die so genannten großen Themen zu behandeln — also die Themen, die zu einem guten Teil eben von den Massenmedien gemacht werden. Mit Blogs und anderen sozialen Medien können Teilöffentlichkeiten, kleine und kleinste Gruppen kommunizieren und sich organisieren. In einer Kampagne kann man sie benutzen, um politische Ziele mit solchen Gruppen zu diskutieren und sich dann auch zu verpflichten, diese Diskussionen in die parlamentarische Arbeit einzubringen. Ich versuche, ein Beispiel aus meinem eigenen Erfahrungsbereich zu formulieren:

Ich bin Lehrender an einer Fachhochschule. Die rechtliche Basis für die österreichischen Fachhochschulen ist das Fachhochschulstudiengesetz; es soll bald novelliert werden. Bei dieser Novellierung geht es unter anderem darum, wie die akademische Selbstverwaltung an den Fachhochschulen in Zukunft aussehen wird, und welche Rechte die Betreiber haben werden. Für die Lehrenden und für die Studierenden an den FHs sind das wichtige Fragen. Bisher werden sie nur in kleinen Zirkeln diskutiert; Politiker, Lobbyisten und Bürokraten dürften versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Wenn es ein grünes Blog oder ein ähnliches Medium speziell zum Thema Fachhochschulen und Fachhochschulstudiengesetz gäbe, könnte man die Studenten und die Lehrenden an den FHs gezielt ansprechen und ihnen die Möglichkeit geben, ihre Ideen zu artikulieren.

Grüner Ideensturm

Die Grünen haben nur dann eine Chance, in die nächste Regierung zu kommen, wenn sie ihre Wählerschaft verbreitern (auch wenn Fachleute für Politmarketing davon ausgehen, dass es in einem Wahlkampf vor allem darauf ankommt, die eigenen Anhänger zu mobilisieren). Deshalb müsste man überlegen, wo man mit Webmedien Menschen erreichen kann, die nicht zur traditionellen grünen Klientel gehöre. Das bekannteste Webmedium ist wahrscheinlich YouTube, hier müsste man also vor allem präsent sein. Lisa Rücker hat im letzten Grazer Wahlkampf Videointerviews mit Bürgern geführt; das könnte viele interessieren, wenn die Interviews nicht gefakt wirken.

Vorstellen könnte ich mir auch Ratings/Umfragen, in denen Bürgerinnen die Qualität ihrer Umwelt oder ihre soziale Lage beurteilen, und in denen sie Wünsche an die Politik formulieren. Die Befragungen müssen nicht online vorgenommen werden, aber die Ergebnisse sollten immer im Netz stehen. Die Partei müsste damit zeigen, dass sie sich nicht nur durch Meinungsumfagen, Experten und Parteimitglieder über die Interessen der Wählerinnen informiert, sondern dass sie die Wähler selbst zu Wort kommen lässt — und sich an die Aufträge der Bürgerinnen auch gebunden fühlt.

Helge schreibt:

let’s blogstorm,

und es liegt wirklich nahe, so etwas wie den IdeaStorm von Dell aufzugreifen und eine Plattform für konkrete politische Vorschläge von Bürgerinnen und Bürgern zu schaffen. Die Teilnehmer können die Vorschläge bewerten, und die grünen Mandatare müssen sich verpflichten, sie zumindest aufzunehmen. Missbrauch kann man dadurch vorbeugen, dass man vorab Spielregeln definiert: Kein Rassismus, keine Diffamierungen, keine Vorschläge ohne Finanzierungskonzept.

Am Wochenende habe ich einige österreichische Blogs nachgelesen. Nicht wenige beschäftigten sich mit dem jüngsten Schwenk der SPÖ und mit dem Brief Gusenbauers und Faymanns an den Herausgeber der Krone. Es ist bemerkenswert, dass der Schwenk der Partei in allen Blogs deutlich kritisiert wird. Mehrere Blogs loben dagegen die Kritik der österreichischen Außenministerin am Versuch Dichands, Politik in der Nachfolge eines Hugenberg oder auch Berlusconi zu machen. (Ein paar Links: Beindruckend Unbeindruckt, Plassnik bissig. Chapeau!, SPÖ macht Rechnung ohne Polit-Blogger.)

Manchmal frage ich mich, ob der populistische Schwenk der SPÖ nicht ein weiteres Signal dafür ist, dass die Sozialdemokratie insgesamt gesellschaftspolitisch nicht mehr viel zu sagen hat, dass sie, wenn man ehrlich ist, am Ende — dass sie überflüssig geworden ist. Mit ihrem Brief zeigen die Vorsitzenden der SPÖ, dass es überhaupt keine ideologische Position mehr gibt, die sie nicht bereit wären, über den Haufen zu werfen, wenn es der Machterhaltung in einer verzweifelten Situation dient. Dass sich die SPÖ an das Lager der Europa-Skeptiker anbiedert, und dass sie vor einer immer wieder mit rechtsradikalen Klischees operierenden Boulevard-Zeitung zu Kreuze kriecht, ist um so bedenklicher, als sie keinen anderen politischen Willen zu erkennen gibt als die Absicht, Wählerstimmen zur Amtserhaltung zu gewinnen. Opportunismus nicht als Schwäche, sondern als Programm.

Das Problem der Sozialdemokratie besteht darin, daß sie zum Gegenteil einer Partei der Besserverdienenden geworden ist. Die SPÖ vertritt die Interessen sozialer Gruppen, die zu den Verlierern der Entwicklung zur Netzwerkgesellschaft — oder wie immer man die neu entstehenden soziale Formationen bezeichnet — gehören. Aus diesem Grunde schließt sie sich an populistische Parteien — die FPÖ und das BZÖ — an. Sie betreibt eine Politik, die zumindest nach außen nur noch als defensiv präsentiert wird und im Kern etatistisch ist. Sie verteidigt die vorgeblichen Interessen der „kleinen Leute“ und tut diese auf Kosten der wirtschaftlichen und technischen Modernisierung. Tatsächlich trägt sie damit zum weiteren wirtschaftlichen Abstieg der Gruppen, die sie vertreten will, bei. Der Wechsel der Position in der Europapolitik ist dafür ein Symbol. Symbolisch für die aktuelle Situation der Sozialdemokratie ist er wohl auch darin, daß er zwar lautstark nach außen verkündet wird, ihn aber kaum eine tatsächliche Europa-kritische Haltung bei der Mehrheit der Funktionäre entsprechen dürfte.

Eine an Gerechtigkeit orientierte Politik müsste ganz anders aussehen als die Verteidigung der Restbestände sozialdemokratischer Idyllen gegen anonyme Mächte wie die europäische Bürokratie oder auch die kalten Neoliberalen. Sie müßte sich um aktive Partizipation der Gruppen bemühen, die von den laufenden Modernisierungprozessen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Sie müsste ein Motto formulieren wie das Yes, We Can der Obama-Kampagne, statt einem alten Rattenfänger nachzulaufen, der sich als Cato vermummt. Es gibt in der europäischen Sozialdemokratie durchaus Bewegung in diese Richtung, ausgehend z.B. von Anthony Giddens. Die SPÖ hat den entgegengesetzten Weg eingeschlagen.

PS: Inzwischen ist die österreichische Bundesregierung zerbrochen, und der Provinz-Boulevard wird die Schlammschlacht bekommen, die er mit Schlagzeilen wie Tag des Verrats an Österreich herbeigeschrieben hat.

Am Montag habe ich endlich Clay Shirkys Buch Here Comes Everybody ausgelesen. Ich habe bereits vor und während der Lektüre darüber gebloggt. Hier noch ein paar Bemerkungen:

Ich empfehle das Buch vor allem Leuten, die nicht jeden Tag mit sozialen Medien umgehen, aber wissen wollen, warum es sich dabei um ein wichtiges Thema handelt. Lehrer, Politiker oder Medienprofis erfahren von Shirky, dass Webmedien nicht ein Hobby von ein paar ausgeflippten Spinnern sind, sondern neue Kommunikationsformen, die die politischen und wirtschaftlichen Institutionen radikal verändern werden. Dabei predigt Shirky nicht, was er wünscht, sondern er verlässt sich auf ökonomische und soziologische Forschungen, die sich nur schwer angreifen lassen. Shirky ist kein Idealist, gegen Ende des Buches schreibt über die Dilemmas jeder Vergesellschaftung, etwa das Gefangenendilemma oder die einfache Tatsache, dass die Erleichterung der Gruppenbildung auch antisoziale Gruppen begünstigt. Soziale Medien sind Antworten auf diese Dilemmas, können sie aber nicht aufheben. Shirky ist nicht technophil: Für ihn erweisen sich die sozialen Folgen von Innovationen erst, wenn die Technik trivial geworden ist.

Ohne Markt und Firma

Shirky stützt sich vor allem auf Yochai Benklers Analysen der Transaktionskosten von Online-Organisationen. Online-Kommunikation verringert den Aufwand für Organisation und Administration radikal; völlig neue Formen der Kommunikation und Kooperation werden konkurrenzfähig. So behauptet sich die commons based peer production wirtschaftlich gegen die Arbeit von zentralisierten Organisationen oder die Akquise von Leistungen auf dem Markt. Weitere Ausgangspunkte bilden Erkenntnisse zur Mathematik kleiner und großer sozialer Gruppen. Shirky zeigt Zwangsläufigkeiten auf; er sucht nach Gesetzen oder Regeln, die sozialen Phänomenen zugrundeliegen. Er diskutiert aber nicht diese Gesetze selbst, sondern stellt ihre Folgen in allgemeinverständlicher Form dar. So hat er ein exzellentes wissenschaftsjournalistisches Buch geschrieben. Über seine Gewährsleute hinaus geht er darin, wie er unterschiedliche Erkenntnisse zu einem weitreichenden Konzept der Möglichkeiten von Online-Organisationen kombiniert.

Vom Teilen über die Kollaboration zur kollektiven Handlung

Shirky entwickelt ein Dreistufenmodell für soziale Praxis oder Gruppenbildung mit sozialen Medien (Web und Mobilkommunikation). Stufe 1 bildet das Teilen von Informationen, Stufe 2 das kollaborative Erstellen von Werken oder Software, Stufe 3 bilden kollektive Handlungen. (Surowiecki spricht zu Beginn von Wisdom of Crowds von drei Ebenen der kollektiven Intelligenz: Kognition, Koordination und Kooperation.) Beispiele für die Stufe 1 sind flickr und del.icio.us, Beispiele für die Stufe 2 Linux oder die Wikipedia. Beispiele für die Stufe 3 sind politische Aktionen, die über das Web organisiert wurden, z.B. Flashmob-Demonstrationen in Weißrussland oder die Durchsetzung einer bill of rights für Flugpassagiere in den USA. Auf allen drei Ebenen werden durch Online-Kommunikation hocheffiziente Organisationen möglich, die völlig unabhängig von bestehenden sozialen Verbänden, z.B. Parteien und Verlagen, sind und mit ihnen nur wenig Gemeinsamkeiten haben. Der Untertitel von Shirkys Buch drückt das aus: The Power of Organizing without Organizations.

publish, then filter und freedom to fail

Zu einer interessanten Lektüre machen Here Comes Everybody (der Titel stammt aus Finnegans Wake) nicht die theoretischen Konzepte, sondern viele Beispiele und Shirkys Fähigkeit zu pointierten Formulierungen. In seinen Fallstudien beschäftigt er sich vor allem damit, wie normale Menschen, nicht etwa Web-Experten, soziale Medien verwenden, um Gruppen zu bilden und ihre Ziele durchzusetzen: Stay at Home Moms verabreden ihre Treffen über Meetup; als Voice of the Faithful schließen sich katholische Laien online erfolgreich dagegen zusammen, dass die Amtskirche den Missbrauch von Kindern durch Geistliche vertuscht. Wie Shirky Dinge auf den Punkt bringt, zeigt die Überschrift seines Kapitels über die redaktionelle Kontrolle in Online-Medien: publish, then filter. Zu den Highlights des Buchs gehören für mich die Abschnitte über die Chancen des Scheiterns (freedom to fail): Gerade weil eine Unmenge von Online-Projekten daneben geht, kommt es zu Vorhaben, die die gesellschaftlichen Möglichkeiten deutlich erweitern — die Mutationsrate ist bei Online-Projekten weit höher als in der realen Welt. Im Gedächtnis bleiben wird mir auch, dass durch die Online-Medien Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit miteinander verschmelzen.

Ich wünsche mir auch, dass meine Studenten das Buch lesen. Ihr Berufsleben wird sich nicht mehr in einer Medienwelt abspielen, die durch den Mangel an Publikations- und Vertriebsmöglichkeiten bedingt war. Von Shirky könnten sie es lernen.

Noch drei Tage bis zum PolitCamp — die Studenten und Kolleginnen, die mitorganisieren, haben sich sehr engagiert, nicht weil es ihr Job wäre, sondern weil sie wollen, dass die Veranstaltung ein Erfolg wird. Natürlich ist es hilfreich, dass wir die Infrastruktur der FH zur Verfügung haben. Trotzdem werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch die Veranstalter sein. Die Vorbereitung soll nur die Vorausstzungen dafür herstellen, dass ein selbstorganisiertes Event stattfinden kann.

Von der Regel, dass der Ablauf eines BarCamps am Morgen von den Teilnehmern geplant wird, sind wir nur an einem Punkt abgewichen: Wir haben einige feste Termine für Politikerinnen und Politiker eingeplant, die einen vollen Terminkalender haben und nur zu bestimmten Zeiten können. Ich glaube, dass das zu rechtfertigen ist, weil wir ja auch in die Politik hineinwirken möchten. Wir haben auch versucht zu erreichen, dass ein paar Themen schon vor dem Event benannt werden, damit sich mögliche Teilnehmer vorstellen können, was am Freitag und Samstag eigentlich stattfinden wird. Trotzdem versuche ich, den Leuten, die mich darauf ansprechen, klarzumachen, dass es bei einem BarCamp nicht vor allem auf Statements und Präsentationen, sondern auf die Fragen ankommt, und darauf, dass man Platz für Zufälle lässt. Bei den BarCamps, die ich bisher besucht habe, waren für mich die Gespräche mit Menschen am interessantesten, die ich vorher nicht oder kaum kannte, und die vielen Informationen und Ideen, auf die man bei einem solchen Event fast zufällig stößt. Zu einem guten Teil geht es bei einem BarCamp um das, was man auf Englisch als serendipity bezeichnet.

Was erwarte ich vom PolitCamp, warum mache ich bei der Vorbereitung mit? Ich möchte, dass so etwas wie ein lokaler Gesprächsraum entsteht, in dem diskutiert wird, wie sich die Politik hier in Österreich durch das Internet und die mobile Kommunikation verändert, verändern kann. Dabei stehen Internet und mobile Kommunikation für mich nicht nur für Technologien, sondern auch für soziale Tendenzen, für die Herausbildung der Netzwerkgesellschaft. Das Thema taucht in den Medien, in der Politik und in der PR immer wieder auf, aber es kommt nur selten zu einem Diskurs jenseits der Institutionen. Gerade ein solcher Diskurs ist aber wichtig, weil die vorhandenen Formen der Politik und der Öffentlichkeit aus der Zeit vor dem Netz stammen und zu einem großen Teil in einer Netzwerkgesellschaft nicht mehr zeitgemäß sind. Für mich wäre das PolitCamp dann erfolgreich, wenn es zu Geprächen führt, die sich fortsetzen — zum Beispiel bei weiteren PolitCamps.

Ein weiterer Aspekt ist für mich wichtig, weil ich an einer Fachhochschule unterrichte: Ich hoffe, dass interessierte Studenten und auch andere junge Leute mit der Welt des Web 2.0 und vor allem mit der Kultur in Berührung kommen, die zu ihr gehört. Dabei kommt es mir nicht auf eine große Menge von Teilnehmern an sondern auf Nachhaltigkeit bei einigen. Ich sehe das PolitCamp durchaus auch als Lehrveranstaltung und hoffe, dass sich Menschen beteiligen, die solche Events noch nicht kennen — mit eigenen Beiträgen und mit vielen Fragen an die anwesenden Digerati.

(Gepostet auch im PolitCamp-Blog)

Antworten auf die Fragen, mit denen ich am Donnerstag nach Wien gefahren bin, habe ich in Molterers Rede zur Lage der Nation nicht bekommen. Um diese Themen ging es gar nicht bzw. nur indirekt oder am Rande. Veranstaltungen dieser Art sprechen vor allem die Aktivisten und Funktionäre der Partei an. Die Funktionäre huldigen ihrer Führung und dürfen sie dafür aus der Nähe erleben. Im Fall Willi Molterers tritt die Führungsfigur ihrerseits so bescheiden auf wie der Filialleiter einer Sparkasse. Charakteristisch für Großveranstaltungen mit Willi Molterer ist die Spannung zwischen der Inszenierung charismatischer Herrschaft (vorgestern im imperialen Ambiente des Redoutensaals) und der Selbstdarstellung des Vorsitzenden als verlässlicher, fast gehemmt wirkender Berufspolitiker. (Ausführliche Berichte gibt es im Standard und der Presse.) Die Kritik der Grünen dient leider nur dazu, Aufmerksamkeit auf die eigene Partei umzuleiten. Molterer hat nicht zur Zerstörung des Sozialstaats aufgerufen — wenn überhaupt, dann zu einer vorsichtigen weiteren Liberalisierung. Den Klimawandel hat er fast mit denselben Formulierungen wie in der Presseaussendung der Grünen als Chance für die Wirtschaft beschrieben.

Ein paar Kommentare — nur vorläufig; es fällt mir nicht leicht etwas zu dieser Veranstaltung zu sagen:

In Molterers Rede müsste ich mir die Aussagen, denen ich gar nicht zustimmen kann, mühsam heraussuchen: Ich finde seine Position zum Schulsystem schwach, und ich halte die Betonung einer restriktiven Linie in der Zuwanderungspolitik für populistisch und falsch. Molterer vertritt Mainstream- oder common sense-Positionen, gegen die nicht viel einzuwenden ist. Allerdings dürfte es schwer sein, Menschen für diese Positionen zu mobilisieren, die nicht Parteisoldaten sind.

Kommt eine Vorstellung von sozialem Wandel zum Ausdruck? Die ÖVP erkennt an — zum Teil sicher ungern — dass es inzwischen viele Formen der Familie gibt. Deutlich gesehen wird der demografische Wandel, die Überalterung der Gesellschaft. Klar zum Ausdruck kommt die Befürchtung, dass der Lebensstandard in Österreich angesichts von immer mehr internationaler Konkurrenz nicht mehr selbstverständlich ist. Aber Veränderungen in den sozialen Strukturen werden nicht gesehen. Überhaupt bleibt sehr blass, wie sich die Partei die Gesellschaft vorstellt. Wenn ich die Rede ihres Vorsitzenden und dem Applaus der Funktionäre an Schlüsselstellen richtig interpretiere, sieht sich die ÖVP nicht ungern als Partei derjenigen, die mit der Entwicklung der Gesellschaft und vor allem mit ihrer eigenen Rolle in dieser Gesellschaft zufrieden sind — früher hätte man gesagt: als Partei des juste milieu. Familie, Arbeit, und vorsichtig auch wieder: Vaterland. Partizipation — ein Leitmotiv in Molterers Rede — erscheint vor allem als Integration in feste, normale Verhältnisse.

Man kann gegen dieses Modell Ideologieverdacht erheben. Auch unabhängig davon stellt sich die Frage, ob ein solches Konzept auf Dauer genügen wird, um die österreichische Gesellschaft in den Dreivierteltakt zu bringen, von dem der Grazer Bürgermeister Nagel in seiner Einleitung sprach. Was passiert, wenn noch mehr Menschen sich als Opfer der Globalisierung sehen? Kann man mit diesem Modell Schritt mit den fortgeschrittenen europäischen Gesellschaften, mit Skandinavien und den Niederlanden halten? life long learning oder Wissensgesellschaft sind vielleicht ausgelutschte, aber noch nicht überflüssige Schlagwörter; in Molterers Rede kamen weder sie noch ein Pendant zu ihnen vor.

Es ist klar, dass man bei einer solchen Feiertagsrede nicht erkennen kann, ob und wie soziale Transformationen in einer Großpartei wie der ÖVP tatsächlich verstanden werden. Nach der Rede vorgestern bin ich mir noch sicherer, dass Schwarz-Grün für Österreich eine realistische und auch eine vernünftige Option ist. (Als der Grazer Bürgermeister Nagl in seiner Einleitung sagte, er könne sich ein schwarz-grüne Koalition auch auf Bundesebene gut vorstellen, gab es nicht gerade emphatischen, aber doch deutlichen Applaus.) Ich schreibe das nicht nur aus Sympathie für grüne Zielsetzungen; ich glaube, dass es der ÖVP selbst gut täte, sicher weiter in die Richtung grüner Politikkonzepte (Stichworte: Dezentralisierung, Heterogenität) zu öffnen — auch wenn sich das angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen vielleicht absurd anhört. Bei einem Event wie am Donnerstag präsentiert sich die Partei als eine geschlossene Organisation, die große soziale Gruppen (in den Bünden) und die Regionen (durch die Landesorganisationen) repräsentiert. Ich glaube, dass das politische Modell, oder vielleicht eher: die politische Metaphorik hinter einem solchen Event für eine postindustrielle, vernetzte Gesellschaft viel zu rückwärtsgewandt ist.