Ich versuche, für eine Lehrveranstaltung über Medientheorie grundlegende Texte zum Web zusammenzustellen. Damit meine ich Texte, die erklären, was das Web ist und warum es relevant ist — auch wenn sie sich nicht ausdrücklich mit dem Web beschäftigen. Ich suche nach Texten, die kostenlos online zugänglich sind, und die jeweils einen wichtigen Aspekt des Webs betreffen. Derzeit bin ich bei folgenden Titeln:

Die Texte sind unterschiedlich spezifisch und unterschiedlich schwierig — einige muss ich selbst noch komplett lesen, einige verstehe ich nur zum Teil. Aber ich werde versuchen, mich an ihnen zu orientieren und sie zu didaktisieren.

PS: Für alle gilt wohl Luhmanns Satz:

Guter Geist ist trocken.

Am Montag habe ich endlich Clay Shirkys Buch Here Comes Everybody ausgelesen. Ich habe bereits vor und während der Lektüre darüber gebloggt. Hier noch ein paar Bemerkungen:

Ich empfehle das Buch vor allem Leuten, die nicht jeden Tag mit sozialen Medien umgehen, aber wissen wollen, warum es sich dabei um ein wichtiges Thema handelt. Lehrer, Politiker oder Medienprofis erfahren von Shirky, dass Webmedien nicht ein Hobby von ein paar ausgeflippten Spinnern sind, sondern neue Kommunikationsformen, die die politischen und wirtschaftlichen Institutionen radikal verändern werden. Dabei predigt Shirky nicht, was er wünscht, sondern er verlässt sich auf ökonomische und soziologische Forschungen, die sich nur schwer angreifen lassen. Shirky ist kein Idealist, gegen Ende des Buches schreibt über die Dilemmas jeder Vergesellschaftung, etwa das Gefangenendilemma oder die einfache Tatsache, dass die Erleichterung der Gruppenbildung auch antisoziale Gruppen begünstigt. Soziale Medien sind Antworten auf diese Dilemmas, können sie aber nicht aufheben. Shirky ist nicht technophil: Für ihn erweisen sich die sozialen Folgen von Innovationen erst, wenn die Technik trivial geworden ist.

Ohne Markt und Firma

Shirky stützt sich vor allem auf Yochai Benklers Analysen der Transaktionskosten von Online-Organisationen. Online-Kommunikation verringert den Aufwand für Organisation und Administration radikal; völlig neue Formen der Kommunikation und Kooperation werden konkurrenzfähig. So behauptet sich die commons based peer production wirtschaftlich gegen die Arbeit von zentralisierten Organisationen oder die Akquise von Leistungen auf dem Markt. Weitere Ausgangspunkte bilden Erkenntnisse zur Mathematik kleiner und großer sozialer Gruppen. Shirky zeigt Zwangsläufigkeiten auf; er sucht nach Gesetzen oder Regeln, die sozialen Phänomenen zugrundeliegen. Er diskutiert aber nicht diese Gesetze selbst, sondern stellt ihre Folgen in allgemeinverständlicher Form dar. So hat er ein exzellentes wissenschaftsjournalistisches Buch geschrieben. Über seine Gewährsleute hinaus geht er darin, wie er unterschiedliche Erkenntnisse zu einem weitreichenden Konzept der Möglichkeiten von Online-Organisationen kombiniert.

Vom Teilen über die Kollaboration zur kollektiven Handlung

Shirky entwickelt ein Dreistufenmodell für soziale Praxis oder Gruppenbildung mit sozialen Medien (Web und Mobilkommunikation). Stufe 1 bildet das Teilen von Informationen, Stufe 2 das kollaborative Erstellen von Werken oder Software, Stufe 3 bilden kollektive Handlungen. (Surowiecki spricht zu Beginn von Wisdom of Crowds von drei Ebenen der kollektiven Intelligenz: Kognition, Koordination und Kooperation.) Beispiele für die Stufe 1 sind flickr und del.icio.us, Beispiele für die Stufe 2 Linux oder die Wikipedia. Beispiele für die Stufe 3 sind politische Aktionen, die über das Web organisiert wurden, z.B. Flashmob-Demonstrationen in Weißrussland oder die Durchsetzung einer bill of rights für Flugpassagiere in den USA. Auf allen drei Ebenen werden durch Online-Kommunikation hocheffiziente Organisationen möglich, die völlig unabhängig von bestehenden sozialen Verbänden, z.B. Parteien und Verlagen, sind und mit ihnen nur wenig Gemeinsamkeiten haben. Der Untertitel von Shirkys Buch drückt das aus: The Power of Organizing without Organizations.

publish, then filter und freedom to fail

Zu einer interessanten Lektüre machen Here Comes Everybody (der Titel stammt aus Finnegans Wake) nicht die theoretischen Konzepte, sondern viele Beispiele und Shirkys Fähigkeit zu pointierten Formulierungen. In seinen Fallstudien beschäftigt er sich vor allem damit, wie normale Menschen, nicht etwa Web-Experten, soziale Medien verwenden, um Gruppen zu bilden und ihre Ziele durchzusetzen: Stay at Home Moms verabreden ihre Treffen über Meetup; als Voice of the Faithful schließen sich katholische Laien online erfolgreich dagegen zusammen, dass die Amtskirche den Missbrauch von Kindern durch Geistliche vertuscht. Wie Shirky Dinge auf den Punkt bringt, zeigt die Überschrift seines Kapitels über die redaktionelle Kontrolle in Online-Medien: publish, then filter. Zu den Highlights des Buchs gehören für mich die Abschnitte über die Chancen des Scheiterns (freedom to fail): Gerade weil eine Unmenge von Online-Projekten daneben geht, kommt es zu Vorhaben, die die gesellschaftlichen Möglichkeiten deutlich erweitern — die Mutationsrate ist bei Online-Projekten weit höher als in der realen Welt. Im Gedächtnis bleiben wird mir auch, dass durch die Online-Medien Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit miteinander verschmelzen.

Ich wünsche mir auch, dass meine Studenten das Buch lesen. Ihr Berufsleben wird sich nicht mehr in einer Medienwelt abspielen, die durch den Mangel an Publikations- und Vertriebsmöglichkeiten bedingt war. Von Shirky könnten sie es lernen.

Thomas Pleil weist auf Brian Solis‘ Eintrag Cultural Voyeurism and Social Media hin, in dem Solis seinen Satz Social Media is About Sociology Not Technology erläutert (Solis‘ Artikel mit diesem Titel hier). Ich stimme Solis fast überall zu (der soziologische Aspekt der Web-Medien ist das Thema, mit dem ich mich in den kommenden Jahren vor allem beschäftigen möchte; und da vor allem mit den sozialen Aspekten des Hypertexts). Allerdings glaube ich, dass sich in seiner Argumentation an einigen Stellen genau die Trennung von Gesellschaft hier und Technik dort wiederfindet, die es ermöglicht, soziale Medien als Technologie mißzuverstehen. Solis schreibt:

Technology is just that, technology.

Das suggeriert, dass man soziale Zusammenhänge unabhängig von der Technik und den Objekten beschreiben könnte, mit denen sie verbunden sind. Ich kann mir nicht vorstellen wie das gehen sollte, oder: Man würde, ginge man so vor, die soziale Dynamik mißverstehen, die durch das Amalgam von menschlichen und nichtmenschlichen, sozialen und techischen Faktoren zustandekommt. Ich finde es sinnvoller, nach den nichtmenschlichen Akteuren (im Sinne Bruno Latours) und ihrer Humanisierung auch im Bereich der sozialen oder Web-Medien zu fragen. Latour selbst beschäftigt sich vor allem mit materiellen Objekten als sozialen Akteuren. Im Web spielen immaterielle, nichtmenschliche Akteure — Akteure auf der Datenebene — entscheidende Rollen; vielleicht fehlt uns aber noch das begriffliche Instrumentarium, um diese Rollen anders als mit Kategorien aus der Zeit vor der Entwickung des Web beschreiben zu können.

Howard Rheingold über Co-Evolution of Technology, Media and Collective Action. (Man kann sich auf der Seite auch ein Video der Präsentation in Second Life ansehen.)

Rheingold versucht in einer Viertelstunde einen Überblick über die Geschichte der Menschheit. Die These ist: Mediale Revolutionen ermöglichen jeweils völlig neue Formen des kollektiven Handelns, sie erlauben es,

to organize collective action on scales that we weren’t able to organize before.

Interessant sind die Konzepte, mit denen Rheingold arbeitet, vor allem der in der Soziologie entwickelte Begriff des kollektiven Handelns (collective action), daneben auch der begriff der symbolischen Kommunikation. Die Voraussetzung der collective action ist dabei nur indirekt die Technologie. Zwischen Technologie und gesellschaftlichem Handeln „vermittelt“ — um es sehr deutsch auszudrücken — die literacy. Rheingold verwendet, vor allem wenn er über die Gegenwart spricht, diesen Begriff im Plural, spricht z.B. von multiple literacies. literacy ist ein soziales Phänomen, sie ist gesellschaftlich reguliert.

Rheingold wehrt sich ausdrücklich dagegen, ein technischer Determinist zu sein. Er verweist auf das Beispiel der Druckerpresse, die in Ostasien früher als in Europa erfunden, aber in zentralisierten Gesellschaften kaum verwendet wurde. Neue Techniken sind nur eine Bedingung dafür, dass die Barrieren für kollektive Aktionen niedriger werden. Sie senken zunächst vor allem die Schwelle für der Erwerb von Bildung.

Rheingolds Keynote ist nur die Einleitung zu einem ausführlichen White Paper (pdf).

Über die selben Quellen wir beim letzten Eintrag gefunden: What the MySpace generation should know about working for free von Trebor Scholz. Ambivalenter Eindruck. Die Kritik an der Ausbeutung immaterieller Arbeit im Social Web stimmt und stimmt nicht. Sie basiert vielleicht auf einer moralisch wertenden, aber ökonomistischen Interpretation der Konsequenzen von Reed’s Law: Die Nützlichkeit von Netzen, speziell sozialen Netzen, wächst exponentiell mit ihrer Größe, weil diese Netze wiederum andere Netze innerhalb ihrer selbst erlauben. Man kann sich dieselbe ökonomistische Interpretation, nur mit umgekehrtem moralischen Vorzeichen, auch vorstellen, und dann ist man schnell bei den Apologeten der Internet-Ökonomie und der Segnungen des Neoliberalismus. (Dass Scholz Facebook als Yahoo!-Firma beschreibt, macht den Artikel nicht vertrauenswürdiger.)

Über Patrick Dax‘ Bookmarks und die Kursbeschreibung The Social Web bei Collectivate.net auf Henry Jenkins gestoßen, der sich beim MIT mit partizipatorischen Medien beschäfigt, und zwar mit einem Focus auf der Popkultur und der Rolle von Fans, nicht nur ausgehend von Online-Medien. Schrieb u.a. Convergence Culture: Where Old and New Media Collide. Online ein längerer Text über Media Literacy: Confronting the Challenges of Participatory Culture: Media Education for the 21st Century (Link zum PDF-Dokument). Wikipedia-Artikel. Blog: Confessions of an Aca-Fan: The Official Weblog of Henry Jenkins. Dort schreibt er in über sich:

The first thing you are going to discover about me, oh reader of this blog, is that I am prolific as hell. The second is that I am also long-winded as all get out. As someone famous once said (Thomas Jefferson, I think), I would have written it shorter but I didn’t have enough time.

Howard Rheingold hat Jürgen Habermas — vor tout-Stanford — gefragt, ob die dezentralisierte Öffentlichkeit des Internet die demokratische Funktion der bürgerlichen Öffentlichkeit übernehmen kann, wie sie Habermas beschrieben hat. Habermas hat eine Antwort schlicht verweigert. Es ist schwer, diesem Nicht-Dialog zwischen dem Autor von Virtual Community und dem Theoretiker der Öffentlichkeit in der Moderne nicht eine symbolische (und beinahe tragische) Qualität zuzusprechen. Rheingold beschreibt das Treffen rücksichtsvoll, aber schockiert in einem Blogeintrag, der die Frage, die Habermas nicht beantwortet hat, eindringlich formuliert.

Ich habe mich in den letzten Wochen weiter mit der „Actor-Network-Theory“ (ANT) beschäftigt, wenn auch noch nicht so intensiv, wie ich es wollte. Noch mehr als vor ein paar Wochen sehe ich in ihr eine Möglichkeit, Phänomene im Bereich der „neuen Medien“ und des Web zu analysieren, ohne sich von eingefahrenen Unterscheidungen wie der zwischen „Technischem“ und „Sozialem“ blind machen zu lassen.
Es handelt sich bei der ANT nicht um eine Theorie im Sinne einer Menge von Aussagen über die „Realität“. Ich verstehe die ANT eher als eine Methode, um soziale Wirklichkeiten zu beschreiben und zu analysieren. Ob eine solche Analyse dann „richtig“ ist, was sie „wert“ ist, hängt von ihren Beziehungen zu ihrem Gegenstand und nicht von der Richtigkeit der theoretischen Grundannahmen der ANT ab.
Allerdings — auch zur ANT gehören Verallgemeinerungen über die Gesellschaft. Ich versuche, provisorisch einige davon zu formulieren, und bitte bessere Kenner dieser Theorie um Korrekturen. Ich hoffe, dass sich diese Annahmen als Ausgangspunkt konkreter Analysen verwenden lassen. Die Texte, auf die ich mich beziehe, habe ich hier gesammelt.
(1) Zu sozialen Strukturen gehören immer sowohl menschliche wie nicht-menschliche Akteure. Die nicht-menschlichen Akteure, die „Objekte“, haben eine entscheidende Funktion bei der Stabilisierung von sozialen Strukturen. Die Objekte sind nicht nur Projektionsschirme für soziale Verhältnisse, sondern sie ermöglichen die sozialen Verhältnisse erst. Der portugiesische Fernhandel, den John Law in einer berühmten Studie (pdf) beschrieben hat, hätte zum Beispiel ohne die Beobachtung der Sterne nicht stattfinden können; die Sterne lassen sich aus dem Netzwerk „Fernhandel“ nicht herauslösen.
(2) Soziale Strukturen existieren nicht unabhängig von Akteuren, sondern sie sind „performativ“, sie werden „aufgeführt“ oder „ausgeführt“. Etwas überdeutlich formuliert: Sie werden immer wieder neu erfunden, neu ausgehandelt und bestimmt. In dieses Aushandeln investieren die Akteure ihr Wissen über die Gesellschaft, ihre „Soziologie“.
(3) In jedem sozialen Netz interagieren unterschiedliche menschliche und nichtmenschliche Akteure. Die Voraussetzung dafür sind Übersetzungen, die überhaupt erst eine Kommunikation zwischen den verschiedenartigen Beteiligten ermöglichen. In solchen Übersetzungsprozessen werden Repräsentanten der verschiedenen Gruppen von Akteuren bestimmt. Die Übersetzungen machen Unvergleichbares vergleichbar und integrieren es damit in ein Netzwerk. Durch die Übersetzung bestimmt oder erzeugt das Netzwerk seine besondere Realität. Es wird festgelegt was real und relevant, was unwirklich und unwichtig ist. Es wird auch festgelegt, welche Ebenen die „Realität“ bilden, wo zum Beispiel bei Medien die Grenze zwischen „Technik“ und „Inhalt“ liegt.
(4) Soziale Strukturen oder soziale Netze dienen dazu, Kontrolle auszuüben, sie sind immer Instrumente der Macht. Bei den Übersetzungsprozessen, in denen sich ein Netzwerk konstituiert, wird bestimmt (verhandelt), wer wen kontrolliert, wer für wen spricht, wer wen oder was repräsentiert. Es gibt keine „unschuldigen“ oder „neutralen“ Übersetzungen, bei denen keine Macht ausgeübt würde.
(5) Zu den Akteuren, die an einem Netzwerk beteiligt sind, können wiederum Netzwerke gehören; sie verhalten sich aus der Perspektive des Netzwerks, in das sie integriert werden, wie „black boxes“. Die makrosoziologische Ebene unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der mikrosoziologischen Ebene; damit Netzwerke auf einer Makroebene funktionieren, müssen die Netzwerke, die in das „Makronetzwerk“ integriert werden, Komplexität so weit reduzieren, dass sie zu „einfachen“ Akteuren werden können.
Im Zentrum der ANT steht der Begriff der Übersetzung, und im Grunde interessiert mich, wie sich dieser Begriff bei der Analyse von Kommunikation im Web verwenden lässt. Übersetzungen sind eine Voraussetzung für die Bildung der neuen „soziotechnischen“ Netzwerke, an der wir gerade teilnehmen. Mit dem Instrumentarium der ANT lassen sich, wie ich glaube, solche Übersetzungsprozesse qualifiziert beschreiben, ohne die immanente Logik der neuen Netzwerke absolut zu setzen (sie also als „natürlich“ anzusehen), und ohne sie zu ignorieren (sie also als bloße „Technik“ zu verstehen).
Beispiele für solche Übersetzungen lassen sich leicht finden: Schon indem ich blogge oder mich bei facebook beteilige, übersetze ich meine analoge Identität (die nichts Natürliches, Vorgegebenes war) in eine „netzkompatible“ Version. Man kann die Arbeit an der Wikipedia als einen großen Übersetzungsprozess verstehen, in dem „enzyklopädisches Wissen“ in eine für das Web geeignete Form übertragen wird. Ohne nichtmenschliche Beteiligte wie Rechner und die Internet-Infrastruktur wären diese Übersetzungsprozesse nicht möglich und auch nicht nötig. Aber keiner dieser Prozesse ist „nur“ technisch. In ihnen allen werden soziale Beziehungen neu ausgehandelt, und wir verwenden unser Wissen über soziale Beziehungen in diesen Verhandlungen.
Für tatsächliche Analysen im Sinne der ANT wäre es wohl vor allem wichtig herauszuarbeiten, wie bei diesen Übersetzungsprozessen Äquivalenzen hergestellt werden und nach welchen Kriterien „überprüfbare“ Realitäten definiert werden (z.B. durch Googles Page Rank, der als „objektives“ Kriterium funktioniert.) Die Blogospäre wäre ein gutes Beispiele; interessanter wäre aber vielleicht die Analyse der Bildung von virtuellen Gruppen und Organisationen.
Das liest sich vielleicht kryptisch. Ich werde mich um Klärung bemühen und freue mich über Kommentare. Etwas weiter ausgearbeitete Gedanken zur Untersuchung von sozialen Medien mithilfe einer „Soziologie der Übersetzung“ würde ich gerne bei einer Gelegenheit wie dem nächsten Barcamp in Wien vorstellen.

Das Gebiet, das ich unterrichte — im Augenblick bezeichne ich es am liebsten als „soziale Medien“— umfasst mehr oder weniger das, was man als Online-Journalismus und Online-PR bezeichnet. Auf meiner geistigen Landkarte grenzt es an zwei andere Gebiete, auf der einen Seite an die Technik und auf der anderen Seite an die „Soziologie“ — damit meine ich die theoretische Analyse und empirische Untersuchung der gesellschaftlichen Rolle, die Online-Kommunikation spielt.

Was die Technik angeht, ist mir relativ klar, welche Verbindungen es zum Thema „soziale Medien“ gibt; allerdings fällt es mir hier schwer, die Grenzen genau zu bestimmen. Was muss eine angehende Online-Journalistin darüber wissen, wie ein Content Management System funktioniert? Ist es für jemand, der sich mit Online-PR beschäftigt, wichtig, die Unterschiede zwischen den Newsfeed-Formaten RSS und Atom zu verstehen? Nützt ihr Wissen über REST oder das end-to-end-Prinzip? Wie auch immer — es ist klar, um welche Themen und Techniken es hier geht, und man kann in jedem Einzelfall überlegen, welche Rolle das technische Wissen für die praktische Arbeit spielt.

Anders ist es für mich bei der sozialen Dimension des Online-Publishing. Hier ist mir völlig unklar, wie die Verbindung zwischen Theorie und Praxis aussieht oder aussehen kann. Wo wird soziologisches Wissen praktisch relevant? Welche Rolle spielen hier für den Praktiker wissenschaftliche Theorien? Geht es hier um Soziologie oder eher um Wissen, das sich auf ganz unterschiedliche Themen (z.B. Ökonomie, Politik) bezieht? Wo ist dieses Wissen mehr als eine relativ willkürliche Interpretation, eine Art ideologischer Begleitung dessen, was ohnehin geschieht?

Seit ich unterrichte, suche ich nach soziologischen Theorien, die mir dabei helfen, diese Fragen überhaupt richtig zu stellen, so dass ich einerseits besser begründen kann, was ich im Unterricht tue, und andererseits Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet begründen kann. Im Grunde vermisse ich bei jeder Diplomarbeit, die ich betreue, ein brauchbares theoretisches und methodisches Fundament.

In den letzten Wochen habe ich mich zum ersten Mal und nur sehr oberflächlich mit der Actor-Network-Theory beschäftigt. Jetzt überlege ich, ob der Teil meiner inneren Landkarte, den ich oben beschrieben habe, sich vielleicht aus einer falschen Perspektive ergibt — denn dieses Bild setzt voraus, es gebe so etwas wie eine Welt eigener sozialer Gesetze oder Regeln, und diese ließen sich soziologisch mehr oder weniger richtig und genau beschreiben oder rekonstruieren.

In der vorletzten Woche habe ich einen kurzen Text übersetzt, den Bruno Latour zusammen mit einer Studentin geschrieben hat. Der Text beschreibt einen Kühlschrank in einem mikrobiologischen Labor, und zwar als ein Objekt, ohne das die gesamte wissenschaftliche Arbeit in dem Labor bis hin zur Klassifikation der dort untersuchten Lebensformen und zur Organisation der Kompetenzhierarchie unter den Wissenschaftlern nicht stattfinden könnte. Der Kühlschrank ist das, was Latour oft als „nichtmenschlichen Akteur“ bezeichnet.

Die Übersetzung war für mich ein Anlass, Latour und seinen theoretischen Weggefährten kennen zu lernen. Zum Glück sind viele Texte Latours online zugänglich. (Weitere Texte werde ich bei Bibsonomy unter dem Tag ANT sammeln.)

Zunächst fasziniert mich an Latour die Konzentration auf Artefakte. Das Web besteht nicht nur aus Menschen, sondern auch aus Artefakten, und so etwas wie ein soziologisches Herangehen an das Web kann nur gelingen, wenn es die technische Ebene nicht durchstreicht. So wie der Kühlschrank, den Latours Text beschreibt, ein mikrobiologisches Labor organisiert (und nicht nur Ausdruck einer Organisation ist, die auch ohne ihn auf einer rein „sozialen“ Ebene existieren könnte), so organisieren Webanwendungen und Mittel der Webkommunikation inzwischen die unterschiedlichsten sozialen Zusammenhänge, von virtuellen Teams bis zur Blogger-Community. Alle diese Artefakte existieren nicht isoliert — der Kühlschrank ist noch kein Labor — aber sie sind auch nicht nur Ausdruck oder Niederschlag einer „hinter“ ihnen liegenden sozialen Wirklichkeit.

Viel interessanter als die Konzentration auf die Artefakte ist aber das Verständnis von „Gesellschaft“, das hinter ihr steht. Latour begreift Gesellschaft als Vergesellschaftung von Heterogenem, als Menge der Aktivitäten die unterschiedliche Realitäten oder Realitätsebenen in Verbindung zueinander bringen. Die soziale Aktivität besteht darin, Netzwerke aus verschiedenartigen Akteuren zu erzeugen. Dabei wird jede der Komponenten eines solchen Netzwerks transformiert oder übersetzt. Latour und die anderen Vertreter der Actor Network Theory bezeichnen ihren Ansatz auch als „Soziologie der Übersetzung“.

Das soziologische Wissen ist dabei nicht in erster Linie Sache der Soziologen, die die Gesellschaft beobachten; es liegt zunächst bei den Akteuren selbst, bei denen, die Wissen über Vergesellschaftung verwenden oder entwickeln, um Gesellschaft — bescheidener gesagt: Netzwerke — zu erzeugen. (Hier schließt Latour an die Ethnomethodologie Harold Garfinkels an.) So ist jeder Wissenschaftler oder Techniker, der Artefakte entwickelt, auch ein — guter oder schlechter — Soziologe, denn er entwickelt Apparate oder Konzepte in einem sozialen Netzwerk und verwendet dabei sein Wissen über dieses Netzwerk.

Zurück zum Ausgangsmodell: Ausgehend von der ANT würde man das Soziale nicht als eine eigene „Schicht“ neben denen der Technik und der Praxis verstehen, und auch Technik und Praxis ließen sich nicht als relativ unabhängige „Schichten“ beschreiben. Die Formen der Online-PR oder des Online-Journalismus ließen sich als „Netzwerke“ beschreiben, die Komponenten unterschiedlicher Art zu einem Feld „vergesellschaften“ und dabei transformieren, zu diesem Feld gehört so etwas wie ein bestimmtes „soziales Wissen“. Ein erfolgreicher Blogger ließe sich dann auch als ein guter Soziologe verstehen, der dazu in der Lage ist, ein Netzwerk aufzubauen und zu organisieren.

Ich bin noch lange nicht weit genug in die ANT eingedrungen, um mit wirkliche Forschungsprojekte vorstellen zu können, bei denen man sie auf dem Gebiet der sozialen Medien verwendet. Aber sie erscheint vielversprechend. Jetzt hoffe ich auf ein paar ruhige Urlaubstage mit Zeit zu ausgedehnterer Lektüre.