Degrowth and the State (D’Alisa & Kallis, 2020) ist im ersten Teil ein Literaturbericht, im zweiten Teil die Skizze einer Theorie der Funktion des Staates bei der Transformation zu einer Degrowth-Ökonomie.

Der ausführliche Literaturbericht ordnet die Positionen der Degrowth-Theoretiker zum Staat in drei Gruppen (three logics and visions of systemic transformations: ruptural, interstitial and symbiotic) ein:

  • revolutionäre (ruptural) Ansätze, für die der Überganz zu einer Degrowth-Wirtschaft nur nach einer radikalen Transformation der Gesellschaft möglich ist,
  • interstitial-Ansätze, die darauf setzen, dass sich Elemente einer Degrowth-Ökonomie als eigene Zonen in der bestehenden kapitalistischen Wachstums-Ökonomie entwickeln,
  • symbiotische Ansätze, die auf eine schrittweise Umformung des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems setzen.

Der revolutionäre Ansatz übernimmt Grundkonzepte der revolutionären Linken, der interstitial-Ansatz gehört zu anarchistischen Konzepten, der symbiotische Ansatz hat Ähnlichkeit mit sozialdemokratischen Vorstellungen von gesellschaftlichem Wandel.

Giorgos Kallis und Giacomo D’Alisa stellen fest, dass sich die Degrowth-Literatur durchgängig nur oberflächlich mit der Rolle des Staats beschäftigt hat. Damit zusammen hänge, dass nie gründlich genug diskutiert worden sei, auf welchen Wegen eine Degrowth-Gesellschaft hergestellt werden könne.

Die Prämisse dieses Papiers ist, dass die Vorschläge von ökologischen Ökonomen und Befürwortern von Postgrowth/Degrowth ins Leere gehen solange sie keine Theorie darüber entwickeln, was der Staat ist und wie er funktioniert. (The premise of this paper is that unless ecological economists and advocates of postgrowth/degrowth develop a theory of what the state is, how it works and how it changes, their proposals speak to the void. Übers. H.W. mit Hilfe von deepl.com)

Kallis und d’Alisa schlagen vor, sich an Antonio Gramscis Theorie des Staats zu orientieren, um die Rolle des Staates beim Übergang zu einer Postwachstumsgesellschaft zu beschreiben.

Unsere Analyse bestätigt ein Paradoxon…. : Degrowth Autoren favorisieren Bottom-up-Handlungen der Basis, aber dann fordern sie eine politische Intervention des Staates von oben nach unten, ohne jedoch eine konzertierte Sicht auf die Rolle des Staates anzubieten. Diese Spannung kann mit einer gramscianischen Staatstheorie gelöst werden, die die Zivilgesellschaft und die politische Gesellschaft als zwei integrale Bestandteile des Staates und seiner Veränderung betrachtet …(Our analysis confirms a paradox … : degrowth authors privilege bottom-up action by the grassroots, but then ask for top-down policy intervention from the state, without however offering a concerted view on the role of the state. This tension can be resolved with a Gramscian theory of the state, which sees civil and political society as two integral components of the state and its change … Übers. H.W. mit Hilfe von deepl.com)

Wichtig dabei:

Gramsci versteht den Staat nicht essentialistisch, sondern als einen Prozess, der sich historisch verändert. Der Staat dient dazu, die Gesellschaft im Interesse einer herrschenden Klasse zu steuern, er ist aber kein monolithisches Gebilde, sondern er kann von unterschiedlichen Interessen dominiert werden. Die politischen Institutionen des Staates und die Zivilgesellschaft können nicht voneinander getrennt werden. Nur über die Veränderung der Zivilgesellschaft (das Erwerben der kulturellen Hegemonie) können politische Veränderungen, auch revolutionäre Veränderungen so vorbereitet werden, dass sie von der Gesellschaft akzeptiert werden.

Für große Teile der Degrowth-Literatur gelte, dass sie

… in der Regel ein Verständnis des Staates als einer Art von der Gesellschaft getrennten Systems da draußen pflegt—eines, das auf die Gesellschaft wirkt, oder eines, in das umgekehrt die Gesellschaft eingreift um es zu verändern, als wäre es eine von der Gesellschaft unabhängige Maschine. Dies unterschätzt, wie der Staat die Beziehungen und Überzeugungen seiner Bestandteile verkörpert und aufnimmt und umgekehrt, wie Subjekte vom Staat produziert werden ( … maintains prevalently an understanding of the state as a system out there separate from society – one that acts upon society, or one that reversely, society intervenes upon and changes it as if it were a machine independent of society. This underplays how the state embo- dies and accommodates the relations and beliefs of its constituents, and vice versa, how subjects are produced by the state. Übers. H.W. mit Hilfe von deepl.com).

Analytisch biete Gramsci uns

… eine Sprache, um zu untersuchen, wie die Ideologie und die Praxis des Wachstums reproduziert wird. Wachstum ist beides: eine Angelegenheit der herrschenden Institutionen im Bereich der politischen Gesellschaft, die von der Logik der Wachstums durchtränkt sind (die Finanzministerien, die Bruttosozialprodukts-Statistiken, die Wachstumsziele und -Klauseln, etc.) und der Her- und Darstellung von Identitäten und Akkumulation von Erfahrungen, die das Streben nach Wachstum selbstverständlich machen (zum Beispiel unsere Erfahrungen mit persönlichen Schwierigkeiten bei der wirtschaftlichen Entwicklung während einer Rezession, bei der Arbeit für ein Unternehmen, das Wachstumsziele hat, oder die Verwendung eines Wachstumsvokabular, um über persönliche Entwicklung und Veränderung zu sprechen, etc) [… a language to examine how the ideology and practice of growth is reproduced. Growth is both a matter of prevalent institutions at the realm of political society imbued with the logic of growth (the Finance Ministries, the GDP leagues, the growth goals and clauses, etc) and the everyday performance of identities and the accumulation of experiences that make the pursuit of growth common sense(for example our experiences of personal hardships when the economy is in recession, working for a firm that has growth targets, our use of a growth vocabulary to talk about personal development and change, etc)].

Strategisch verlange die Transformation zu einer Postwachstumsgesellschaft, dass durch neue soziale Praktiken neue Selbverständlichkeiten entstehen, aufgrund derer eine Postwachstumsgesellschaft akzeptiert werden kann. Der kulturelle Wandel hat hier eine Schlüsslrolle.

Die Strategie, die Kallis und d’Alisa vorschlagen, kombiniert den interstitial und den symbiotischen Ansatz, bereitet aber revolutionäre Veränderungen vor. Sie wird in diesem Aufsatz nur angedeutet. Als konkretes Beispiel für das Vorwegnehmen von Eigenschaften einer Degrowth-Ökonomie verwenden die Autoren die Idee eines Maximaleinkommens in Forschungsinstitutionen.


Der Text enthält sehr viele Anregungen, zur Degrowth-Literatur und zu Gramsci, (den ich kaum kennen). Zwei Ideen zur Ergänzung/zum Weiterdenken:

  1. Wo die Autoren im Anschluss an Gramsci über kulturellen Wandel sprechen, könnte man konkreter auf Netzwerke hinweisen, die sich in Verbindung mit geteilten Ressourcen (Wissen, Natur) entwickeln. Möglicherweise stellen auch Städte solche shared spaces dar. Hier könnte man eine Verbindung zu Praktiken der social production (Benkler, 2006) herstellen.
  2. Konkrete Wege der Transformation in dem Sinne, der hier als symbiotisch beschrieben wird, finden sich in dem Referenzplan österreichischer Wissenschaftler für das Erreichen der Pariser Klimaziele (Kirchengast et al., 2019). Auch wenn der Ausdruck nicht fällt, geht es darin um eine Degrowth-Perspektive, etwas um eine Reduktion von Arbeitszeiten in Verbindung mit einer Reduktion des Konsums.

Benkler, Y. (2006). The wealth of networks how social production transforms markets and freedom. Retrieved from http://site.ebrary.com/id/10170022

D’Alisa, G., & Kallis, G. (2020). Degrowth and the State. Ecological Economics, 169, 106486. https://doi.org/10.1016/j.ecolecon.2019.106486

Kirchengast, G., Kromp-Kolb, H., Steininger, K., Stagl., S., Kirchner, M., Ambach, C., … Strunk, B. (2019). Referenzplan als Grundlage für einen wissenschaftlich fundierten und mit den Pariser Klimazielen in Einklang stehenden Nationalen Energie- und Klimaplan für Österreich (Ref-NEKP). Retrieved from https://ccca.ac.at/wissenstransfer/uninetz-sdg-13-1

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