Ich bin auf das neue Buch von George Monbiot und Peter Hutchinson zur „geheimen Geschichte des Neoliberalismus“ (2024) durch Kevin Anderson aufmerksam geworden. In England ist es ein Bestseller. Nun erscheint zum Buch auch ein Film. George Monbiot spricht den Text des Einleitungskapitels im Trailer:
Zwei Narrative
Ich habe bei der Lektüre des spannenden und zugleich sachlich und zugespitzt geschriebenen Texts viel gelernt. Ich wusste nicht, dass der Übergang vom Neoliberalismus zu autoritären Bewegungen so fließend ist. Mir war nicht klar, dass der Neoliberalismus fast von Beginn an als Waffe im politischen Kampf definiert und von reichen Unternehmern mit enormen finanziellen Mitteln promotet wurde. Ich habe auch viel darüber erfahren, dass Kolonisierung und ökologischen Zerstörung dessen, was jenseits seiner Grenzen liegt, zum Wesen des Kapitalismus gehören, von der Besiedlung und Zerstörung Madeiras im 15. Jahrhundert bis heute.
Die wichtigste Qualität dieses Buches sehe ich aber nicht in den für den relativ kurzen Text enorm vielen, gut zusammengestellten Details. Ich sehe sie darin, wie er das zentrale Narrativ des Neoliberalismus erkennbar und durchschaubar macht und ihm ein alternatives Narrativ gegenüberstellt, das Politics of belonging genannt wird. Durch diese Konfrontation zweier Narrative werden dieses Buch und der zu ihm gehörende Film – so hoffe ich wenigstens – dazu beitragen, die Klimagerechtigkeitsbewegung und andere soziale Bewegungen erneut zu mobilisieren.
Inhaltsangabe 1: Die neoliberale Internationale
Das Buch hat 25 Kapitel, die in der gedruckten Ausgabe meist jeweils 6-7 Seiten umfassen. Sie sind professionell journalistisch geschrieben – hier haben einer der besten Umweltjournalisten der Welt und ein erfolgreicher Filmregisseur zusammengearbeitet.
In den ersten beiden Dritteln von The Invisible Doctrine klären George Monbiot und Peter Hutchinson über die Ideologie auf, die für die aktuelle Lähmung der Klimabewegung mitverantwortlich ist, und die sie – mit Vorbehalten – als „Neoliberalismus“ bezeichnen.
Sie beschäftigen sich mit der Ideologie des freien Marktes („We are all neoliberals now“) und charakterisieren den Kapitalismus als Wirtschaftssystem des „Boom, Bust, Quit“ („Aufschwung, Pleite, Ausstieg“):
„Boom, Bust, Quit“ ist das, was der Kapitalismus tut. Die ökologischen Krisen, die die sozialen Krisen, die Produktivitätskrisen, die er verursacht, sind keine perversen Ergebnisse des Systems. Sie sind das System [S. 11 der Printausgabe, übersetzt von mir mit Hilfe von DeepL].
Monbiot und Hutchinson beschreiben Entstehung und weltweiten Siegeszug der „neoliberalen Internationale“, ermöglicht durch die massive und oft verdeckte Förderung durch interessierte Geldgeber wie die Koch Brothers und durch das Design der Ideologie als Sammlung von leicht wiederhol- und anpassbaren Versatzstücken. Sie schildern, wie diese Ideologie sich in der ehemaligen Linken – bei den Blairs, Clintons und Schröders – durchsetzte, indem sie unkenntlich wurde. Sie erläutern, wie deutlich sich der Neoliberalismus als ideologisches Waffenarsenal für Privilegierte vom Liberalismus mit seiner Betonung freier Märkte unterscheidet. Sie stellen dar, wie diese Ideologie von Oligarchen benutzt wurde um Ungleichheit innerhalb von Ländern und zwischen globalem Norden und globalem Süden pseudowissenschaftlich zu rechtfertigen und autoritär durchzusetzen. Sie beschreiben die Erosion der westlichen Demokratien, das Sinken des Lebensstandards großer Teile der Bevölkerung und die psychische Verelendung als Folgen des Neoliberalismus.
Die Autoren zeigen, wie die neoliberale Internationale ihre Ideologie dadurch unkenntlich machte, dass sie die Bezeichnung „Neoliberalismus“ nicht verwendet und sie gerade damit zunehmend als „alternativlos“ erscheinen lässt. Sie erläutern das manchmal groteske Agieren neoliberaler Politiker in Großbritannien und den USA. Sie beschäftigen sich mit verdeckten Operationen reaktionärer Superreicher zur Zerstörung der demokratischen Öffentlichkeit, wie sie u.a. zum Brexit geführt haben. (Österreich hätte hier von Grasser über Mateschitz bis Kurz auch einiges Anschauungsmaterial geboten.)
Nach dieser Darstellung des Neoliberalismus von seinen Anfängen in den 1930er Jahren bis zur Gegenwart gehen die Autoren ausführlich auf die gravierendste Folge des Neoliberalismus ein: den Klimanotstand und die mit ihm verbundenen ökologisch-sozialen Krisen. Sie schildern, wie die ökologisch katastrophalen Konsequenzen einer unregulierten und extrem ungerechten Wirtschaft verharmlost oder sogar gerechtfertigt werden, und wie Pseudolösungen dazu dienen, die notwendigen transformativen Veränderungen des Wirtschaftssystem zu verhindern.
Am Beispiel Roosevelts und des New Deals zeigen die Autoren, wie die Bevölkerung erfolgreich mobilisiert werden kann, um einer existentiellen Krisensituation zu begegnen. Heute dagegen verhindert neoliberale Entmächtigung der Demokratie eine politische Willensbildung, die den aktuellen Krisen angemessen wäre:
Was hält die Welt also davon ab, mit der gleichen Entschiedenheit auf die größte Krise zu reagieren, die die Menschheit je erlebt hat? Es ist nicht der Mangel an Geld, Fähigkeiten oder Technologie (wenn überhaupt etwas, dann würde die Digitalisierung den Wandel schneller und einfacher machen). Es ist das politische Denken, das uns einredet, solche Veränderungen seien unmöglich. Es ist der politische Wille [S. 136 der Printausgabe, übersetzt von mir mit Hilfe von DeepL].
Inhaltsangabe 2: Politics of belonging
Schließlich entwerfen Monbiot und Hutchinson auf wenigen Seiten ein neues Narrativ als Alternative zur neoliberalen Entmächtigung. Es ist – glaube ich – in seiner Prägnanz und Einfachheit für viele Teile der Klimagerechts- und anderer sozialer Bewegungen anschlussfähig – sowohl für eher basisdemokratisch-anarchistische Gruppierungen wie für diejenigen, die sich an der vor-neoliberalen Sozialdemokratie orientieren. Zunächst charakterisieren sie das Narrativ der „invisible doctrine“ als restoration story, als Wiederherstellungsgeschichte:
Das Land wird von den mächtigen und ruchlosen Kräften eines übermächtigen und übergriffigen Staates heimgesucht, dessen kollektivierende Tendenzen Freiheit, Individualismus und Chancen zunichte gemacht haben. Aber der Held der Geschichte, der freiheitssuchende Unternehmer, wird diese mächtigen Kräfte bekämpfen. Er wird die lähmenden Beschränkungen des Staates aufheben und durch die Schaffung von Wohlstand und Möglichkeiten, die sich nach unten zu allen ausbreiten, die Harmonie im Land wiederherstellen [S. 144 der Printausgabe, übersetzt von mir mit Hilfe von DeepL].
Diese Erzählung ist spätestens seit 2008 für niemanden mehr glaubwürdig, sie war aber lange enorm erfolgreich. Die Gegenerzählung der Politik der Zugehörigkeit („politics of belonging“) übernimmt das Muster der Wiederherstellung, um einen breiten politischen Konsens zu erzielen, allerdings mit entgegengesetzten Inhalten:
Das Land leidet unter Unordnung, die von den mächtigen und ruchlosen Kräften der Menschen verursacht wird, die uns sagen, dass unser höchster Lebenszweck darin besteht, uns wie streunende Hunde um eine Mülltonne zu streiten. Aber die Helden der Geschichte, das gemeine Volk, dem lange Zeit die demokratische Macht vorenthalten wurde, die uns versprochen wurde, werden sich gegen diese Unordnung auflehnen. Wir werden diese üblen Kräfte bekämpfen, indem wir reiche, engagierte, kooperative, integrative und großzügige Gemeinschaften aufbauen. So werden wir die Harmonie im Land wiederherstellen [S. 140 der Printausgabe, übersetzt von mir mit Hilfe von DeepL].
Die Gegengeschichte orientiert sich an der sozialen Ökologie Murray Bookchins. Sie fordert private Genügsamkeit bei öffentlichem Luxus, setzt für politische Entscheidungen – ohne die Bedeutung des Staats zu ignorieren – auf die kleinstmöglichen, lokalen Einheiten und als wichtigste Form des Eigentums auf Gemeineigentum (commons). Sie ist ausgerichtet auf die sofort nötige umfassende Transformation, die durch inkrementelle Veränderungen wie das „grüne Wachstum“ nicht gefördert, sondern verhindert wird. Sie erwartet diese Transformation von tipping points, von der Auslösung sozialer Kipp-Elemente.
Entmächtigung und Ermächtigung
In Monbiots und Hutchinsons Darstellung wird deutlich, dass die Machtlosigkeit der alternativen Kräfte ein Bestandteil und ein Effekt der „invisible doctrine“ ist. Damit ist die Machtlosigkeit nicht beendet. Aber es wird erkennbar, wo Gegenstrategien ansetzen können. Wer sich von der neoliberalen Doktrin nicht dumm machen lassen will, muss sie als ideologisches Konstrukt durchschauen.
Das Buch leistet so zweierlei: Es erklärt den Neoliberalismus als Hauptursache der aktuellen sozial-ökologischen Krisen auf der politisch-ideologischen Ebene und es dekonstruiert die gezielte Entmächtigung der Opposition gegen die herrschenden Machtgruppen durch diese Ideologie. Der Begriff „Neoliberalismus“ bezieht sich dabei auf ein ideologisches Konstrukt, dass die Macht einer kleinen Gruppe absichert und vergrößert. „Neoliberalismus“ meint eine politische, nicht eine ökonomische Doktrin – ein Werkzeug, um, wie es Monbiot formuliert hat, den Kapitalismus vor der Demokratie zu schützen.
George Monbiot im Dialog mit Thomas Picketty
Einen guten Überblick über die Inhalte des Buchs und einige Ansatzpunkte für die weiterführende Diskussion bietet ein Gespräch zwischen George Monbiot und Thomas Picketty, das bei der Vorstellung der französischen Ausgabe in der Paris School of Economics stattfand (in den Einstellungen des Videos lassen sich deutsche Untertitel auswählen):
Picketty lobt die Kürze des Buchs, einen seiner großen Vorteile. Die Autoren haben die Informationen (deren Tiefe der umfangreiche Anmerkungsteil zeigt) nicht nur enorm verdichtet, sondern sie zugleich auch so organisiert, konzentriert und in narrative Zusammenhänge gebracht, dass sie leicht nachzuvollziehen sind.
Zu Beginn der Diskussion erklärt Picketty, dass er Inhalt und Folgerungen des Buchs zustimmt, auch wenn er selbst andere Begriffe als Monbiot und Hutchinson verwende. So spricht Picketty von „Proprietarismus“ und „Sakralisierung des Eigentums“. Die Diskussion zeigt, dass Monbiots auf die Ökologie fokussierter und Pickettys eher sozialdemokratischer Ansatz komplementär, aber nicht deckungsgleich sind.
Solche Diskussionen müssen in der Klimagerechtigkeitsbewegung fortgeführt werden, um die Alternativen zu den Versuchen einer inkrementellen Ökologisierung der Wirtschaft zu entwickeln („winning slowly is the same as losing“, sagt Monbiot in der Diskussion). Die soziale Ökologie und der Kommunalismus Murray Bookchins, die auch Ausgangspunkte für Éric Pineaults Social Ecology of Capital sind, können dabei wichtige Bezugspunkte bilden.