In den letzten beiden Wochen habe ich in kleinen Portionen das Buch From Papyrus to Hypertext: Toward the Universal Digital Library von Christian Vandendorpe gelesen. Es ist kein historisches und auch kein wirklich systematisches Werk, sondern eine Kette kurzer Essays, die immer wieder dieselben Themen aufnehmen und sie in verschiedene Richtungen entwickeln. Alle antworten auf die Frage, wie sich das Buch und das Lesen durch die Digitalisierung und das Web verändern.

Christian Vandendorpe, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Christian_Vandendorpe, CC BY-SA 3.0
Christian Vandendorpe, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Christian_Vandendorpe, CC BY-SA 3.0
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Umschlag von 'Blumenberg'

Seit gestern mache ich Urlaub in Cres—und es werden wohl Leseferien werden. Gestern gleich nach der Ankunft habe ich Blumenberg von Sibylle Lewitscharoff ausgelesen, das ich schon in Graz begonnen hatte. Meine Schwester hat mir den Roman über den Philosophen Hans Blumenberg zum Geburtstag geschenkt. Ich habe in den ersten Semestern in Münster bei Blumenberg studiert. Er hat mich von allen Philosophen, die ich gehört habe, am meisten beeindruckt. Ich würde mich heute vielleicht nicht für Ethnomethodologie und Akteur-Netzwerk-Theorie interessieren, hätten mich Blumenbergs Vorlesungen damals nicht auf Husserl und die Phänomenologie gestoßen.

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220px-Walter-ongIch habe Walter Ongs Orality and Literacy: The Technologizing of the Word1 vor allem gelesen, weil mich interessiert, was das Besondere an der Schriftlichkeit im Web ist. Ong schreibt in diesem Buch zwar nicht direkt über das Web—es ist Anfang der 80er Jahre erschienen. Aber er beschäftigt sich gründlich und historisch damit, was Schriftlichkeit ist. Dabei formuliert er Thesen, deren Übertragbarkeit auf das Web man untersuchen kann.
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Ein Interview mit Bruno Latour hat mich angeregt, mich mit den Querverbindungen zwischen Latour und der Semiotik von A.J. Greimas zu beschäftigen. Der Greimas’sche Begriff des internen Referenten und Latours Konzept der Referenzketten eignen sich möglicherweise dazu, Eigenschaften von Hypertext, vor allem seiner rhetorischen Wirkung, zu beschreiben.

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Ich lese gerade Garfinkels langen Text Passing and the managed achievement of sex status in an „intersexed“ person in den Studies in Ethnomethodology. In diesem Text geht es darum, wie eine Frau vor und nach einer Geschlechtsumwandlung die weibliche Rolle abonniert. Das Ziel Garfinkels ist es herauszubekommen, wie eine solche Rolle als moralische Entität oder moralisches Objekt verstanden wird. Agnes, so nennt Garfinkel die Person, die er beschreibt, managt das passing, den Übergang zu einem medizinisch gesehen neuen Geschlecht, indem sie sich darauf beruft, dass sie von Natur aus immer schon eine Frau gewesen ist.

Mich interessiert diese Rechtfertigung bzw. dieses Verständlichmachen. In Garfinkels Theorie spielen die Begriffe account und reflexivity eine wichtige Rolle. Zu jeder Art von menschlichem Handeln gehört Rationalität nicht im theoretischen Sinn sondern im Sinne des Verständlichmachens, Erklärens oder Rechtfertigens der eigenen Handlungen für andere und für sich selbst. Soziale Ordnungen oder Strukturen entstehen, weil—oder setzen voraus, dass—mehrere Akteure ihr Handeln füreinander so rechtfertigen bzw. verständlich machen können, dass sie sich wechselseitig aufeinander beziehen können. Dabei handelt es sich nicht um ein Verständlichmachen gegenüber einem theoretischen Zweifel sondern um eine permanente Berufung auf Selbstverständliches, das als solches schwer zu thematisieren ist und außer von Soziologen oder Phänomenologen auch kaum thematisiert wird.

Im Grunde geht es dabei immer darum, was die soziale Wirklichkeit ist, was von den Teilnehmern in einer sozialen Struktur als unbezweifelbar und gewiss angesehen wird. Es gibt z.B. durchaus sozial sanktionierte Möglichkeiten das Geschlecht zu wechseln, z.B. im Karneval oder im Theater. In solchen Fällen kehrt man aber danach immer wieder zu seinem wirklichen Geschlecht zurück, an dem niemand zweifelt. (Mit diesen unverrückbaren praktischen Gewissheiten beschäftigt sich Garfinkel vor allem.)

Ein ganz anderes Beispiel: Gestern habe ich mit Kollegen über Lehrveranstaltungen diskutiert. Dabei haben wir uns alle drei auf die Aufgaben eines Bachelor-Studiums bezogen. Wir haben unsere Position bei relativ konkreten Fragen gerechtfertigt, indem wir uns auf sehr abstrakte Grundsätze und Programmen bezogen haben. Handlungen oder Äußerungen, die man nicht in einer solchen oder ähnlichen Form rechtfertigen kann, würden offenbar als unsozial, unverständlich, irrational oder ähnlich eingeschätzt. Die selbstverständliche Realität besteht in diesem Fall nicht in den Grundsätzen, auf die wir uns berufen haben, sondern darin, dass wir uns auf Grundsätze berufen.

In Bezug auf das Web stellt sich die Frage, ob es dort spezifische Selbstverständlichkeiten gibt und in welchen Verhältnis sie zu anderen sozialen Selbstverständlichkeiten stehen. Ein Beispiel, dass mich an den Geschlechtswandel im Karneval erinnert, nach dem man zu seinem natürlichen Geschlecht zurückkehrt: Der Realitätscharakter digitaler Informationen ist für viele Menschen offenbar unklar; Realität haben für sie nur Informationen, die ausgedruckt sind. Vielfach unterliegen digitale Informationen generell dem Zweifel an ihrer Wirklichkeit (so wie es mindestens früher auch mit geschriebenen Informationen war; die platonische Schriftkritik geht wohl von der grundsätzlichen Unzuverlässigkeit schriftlicher Informationen aus).

Für ethnomethodologische Untersuchungen zum Web kann das heissen: Auf einer Ebene lässt sich untersuchen, wie Akteure im Web ihr Handeln rechtfertigen und verständlich machen. Dafür gibt es Beispiele vom Literate Programming bis zur Selbstdarstellung bei Twitter. Auf dieser Ebene geht es um die accounts im Sinner Garfinkels, die nicht etwas Sekundäres sind, sondern zu jedem sozialen Handeln gehören. Auf einer zweiten Ebene lässt sich fragen, welche sozialen Objekte die Teilnehmer an der Webkommunikation konstruieren, oder: an welche Objekte sie glauben, welche Objekte für sie eine soziale und moralische Autorität, einen Sollenscharakter haben, und welche Eigenschaften diese Objekte haben.

Das sind sehr provisorische Überlegungen; ich bin mir nicht sicher, ob ich mit meinem Verständnis Garfinkels überhaupt richtig liege. Ich habe aber den Eindruck dass das Rechtfertigen und Transparentmachen des eigenen Agierens im Web ein Schlüsselthema sein könnte, wenn man herausfinden will, was die sozialen Eigenschaften des Webs sind.

(Eine zweite Notiz zu Olaf Breidbachs Buch Neue Wissensordnungen, das ich gestern zuende gelesen habe. Auf Breidbachs deutliche Unterscheidung von Information und Wissen bin ich hier eingegangen.)

Ich habe Breidbachs Buch gekauft, weil mich die Frage des Untertitels Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht interessiert hat. Treffend ist dieser Untertitel nicht. Breidbach sagt vor allem, dass Wissen eine kulturelle Interpretation von Daten und Informationen ist; wie sie im einzelnen geschieht, beschreibt er nicht. Breidbachs Buch ist vor allem eine Kritik an der Vorstellung, es gebe so etwas wie eine Ordnung, die alles wirkliche und mögliche Wissen umfasst. Die neuen Wissensordnungen, von denen er spricht, sind dynamisch und zunächst lokal.

Zwei Wege, die nahe liegen, wenn man überhistorische Theorien des Wissens ablehnt, schlägt Breidbach nicht ein: die radikale Historisierung des Wissens, die es ablehnt, nach mehr als historischen Ordnungen zu fragen (diese Position ordnet Breidbach ausdrücklich Michel Foucault zu), und die Hermeneutik, die Wissen rekonstruiert, indem sie Konzepte des untersuchten Wissens übernimmt und zugleich den Abstand zwischen den eigenen Voraussetzungen und denen der interpretierten Konzepte reflektiert. Mit Hermeneutik beschäftigt sich Breidbach nicht ausdrücklich.

Das argumentative Gewicht des Buchs beruht nicht auf den Aussagen über die neuen Wissensordnungen, die immer sehr vage und vorläufig sind und sich möglicherweise mit Methoden wie denen der Actor Network Theory füllen und präzisieren ließen (z.B. was die Beziehungen zwischen Lokalem und Globalem angeht). Gewicht hat das Buch vor allem in seiner Kritik an allen Vorstellungen von Wissen als einer abschließbaren symbolischer Repräsentation der Realität, sei es die frühneuzeitliche Universalwissenschaft, seien es Expertensysteme.

Dabei enthält das Buch verschieden Argumentationen gegen das Verstehen von Wissen als symbolischer Repräsentation: Das Scheitern der Operationalisierung solcher Ansätze in der KI spielt für Breidbach eine wichtige Rolle, ebenso die These, dass diese Konzepte letztlich auf nicht mehr haltbaren theologischen Voraussetzungen beruhen (Gott sorgt dafür, dass der Mensch die Welt adäquat versteht.) Die wichtigste und wohl auch originellste Argumentation beruht auf der Evolutionstheorie: Wenn Wissen letztlich in evolutionären Prozessen entsteht, und wenn die Evolution nicht von einem intelligent design abhängig, sondern zufällig ist, dann gibt es keinen Grund dafür, die Entwicklung des Wissens teleologisch als Annäherung an die sich immer mehr erschließende Realität zu verstehen.

Eine interessante Ebene des Buchs bilden Breidbachs Reflexionen über die Metaphorizität und Nichtmetaphorizität der Begriffe, mit denen man über Wissen spricht. Für Breidbach gehören Unbestimmtheit und Offenheit zu kognitiven Prozessen, und sie drücken sich in einer metaphorischen Sprache, z.B. in Ausdrücken wie Netzwerk, aus. Diese Metaphern lassen sich aber durch Kritik und Explikation auflösen; die Sprache, in der man über das Wissen spricht, ist für Breidbach nicht notwendig metaphorisch. So wie Breidbach das Wissen einerseits historisiert und andererseits von Ordnungen des Wissens spricht, so erkennt er die Metaphorizität des Ausdrucks von Wissen an, glaubt aber, sich ihr entziehen zu können.

Was bedeutet das für die Themen, mit denen ich mich beschäftige, also für die Vermittlung und Erzeugung von Wissen mit Online-Medien? So etwas wie eine direkte Anwendung finde ich nicht, das würde dem Buch nicht gerecht. Interessant in Hinblick auf den Journalsmus ist, was Breidbach über die Abhängigkeit jedes Wissens von Strukturen (damit meint er materielle Voraussetzungen im weitesten Sinn, z.B. Apparate und Praktiken) sagt. Die journalistischen Methoden (von der Interviewtechnik bis zum check!, cross check! double check!) lassen sich wohl ganz ähnlich wie wissenschaftliche Methoden beschreiben, auch in ihnen geht es um die Erzeugung von Wissen, und auch die journalistische Arbeit hängt von technischen und institutionellen Voraussetzungen und von erlern- und tradier- aber nur zum Teil beschreibbaren Praktiken ab. Speziell im Online-Journalismus verändern sich die Strukturen radikal, insbesondere dadurch, dass und wie Daten journalistisch relevant werden. Andererseits entstehen neue Praktiken, z.B. der Kommunikation in sozialen Netzwerken oder auch auf BarCamps.

Noch wichtiger könnten Breidbachs Argumentationen für Kommunikationspraktiker als garde-fou gegenüber vorschnellen Totalisierungen sein. Breidbach zeigt, dass Wissenstopologien allenfalls lokal und provisorisch sein können. Das betrifft auch die Darstellung von Wissen bis hin zur Strukturierung von Websites. So wäre zu überlegen, welche Rolle metaphorische Topologien (etwa Wissensnetze) überhaupt bei der Präsentation von Wissen spielen können, und wie sie z.B. mit anderen Formen der Kontextualisierung von Informationen verbunden werden können.