Durch einen Tweet von Bruno Latour bin ich auf das Buch Abondance et liberté von Pierre Charbonnier aufmerksam geworden, das gerade in Frankreich erschienen ist.
Latour sagt:
Man kann die Bedeutung von Pierre Charbonniers Buch „Abondance et liberté“, das am 2-1-20 veröffentlicht wurde, kaum überschätzen, denn es erlaubt uns zum ersten Mal, die sozialistische Tradition auf die radikalsten Aspekte der sogenannten „ökologischen“ Themen aufzupfropfen.
(Das Wort greffer, das Latour benutzt, bezieht sich auf das Veredeln in der Landwirtschaft, und es wird auch im Sinne von transplantieren verwendet.)
Difficile de surestimer l’importance de ce livre de Pierre Charbonnier, Abondance et liberté, sortie le 2-1-20 qui permet pour la première fois de greffer la tradition socialiste sur ce qu’il y a de plus radical dans les questions dites « écologiques ». pic.twitter.com/gZxcPMgsLX
— BrunoLatour (@BrunoLatourAIME) November 17, 2019
Charbonniers Buch ist, nach allem, was ich jetzt darüber mitbekommen habe, eine grundlegende historische und systematische Auseinandersetzung mit den Beziehungen der politischen Philosophie des Liberalismus zur Natur, oder wohl besser: zu der nicht mehr haltbaren Entgegensetzung von Natur und Kultur bzw. Natur und menschlicher Gesellschaft. Ich habe gestern eine Diskussion dazu auf France Culture gehört. Charbonnier geht offenbar einerseits von der engen Verbindung aller neueren liberalen und sozialistischen Konzeptionen der Gesellschaft mit dem Ideal eines durch unbegrenzte Ausbeutung der Natur erzeugten materiellen Überflusses nach. Andererseits versucht er zu zeigen, dass Freiheit auch anders gedacht werden kann und vor der Epoche der fossilen Energie von den frühen Denkern des Liberalismus anders gedacht wurde. Charbonnier bleibt nicht bei der Analyse stehen und schlägt eine linke Politik jenseits des Gegensatzes von Kultur und Natur vor. Zu ihr gehört es, das entnehme ich einer Bemerkung in der Diskussion, in Theorie und Praxis mit drei Formen der explizit oder implizit behaupteten Überlegenheit Schluss zu machen: der Überlegenheit der Männer gegenüber den Frauen, der Überlegenheit Europas gegenüber der kolonialen Peripherie und der Überlegenheit des Menschen gegenüber der Natur.
Mir war Pierre Charbonnier leider noch kein Begriff. Seine Gespräche mit Philippe Descola—einen sehr dichten und zugleich lesbarer Text—habe ich vor anderthalb Jahren kennengelernt und hier auch darüber geschrieben. Charbonnier pflegt einen spannenden Account auf Twitter. Ein früheres ausführliches Buch von Charbonnier über die Opposition von Natur und Kultur in den Sozialwissenschaften (La fin d’un grand partage – Nature et société, de Durkheim à Descola) hat Daphné Le Roux ausführlich besprochen. Ihre Rezension schließt mit einem Satz ab, der wohl auch den Ausgangspunkt von Charbonniers neuem Buch bezeichnet:
Im Zeitalter des „Anthropozän“ ist es daher nur möglich, eine wirklich politische Denkweise über ökologische Fragen zu entwickeln, wenn man aufhört, einen grundlegenden Unterschied zwischen der Gesellschaft und der der Welt, in der sie verankert ist, zu denken . (À l’âge de l’« Anthropocène », ce n’est donc qu’en cessant de penser une différence fondamentale entre la société et le monde dans lequel elle s’ancre qu’il est possible de former une pensée proprement politiques des questions écologiques.)
Anmerkung, 14.1.2020: Fortsetzung in “Radikale Politisierung aller ökologischen Fragen”—erste Notizen zu “Abondance et liberté” von Pierre Charbonnier