Klee_Paul: Hauptweg und Nebenwege; Museum Ludwig, Köln

Seit Beginn des neuen Semesters an der Fachhochschule bin ich in einem Zustand, den ich unbedingt vermeiden wollte: unter Wasser. Ich schleppe zu viele alte, nicht abgeschlossene Projekte mit mir herum, und gleichzeitig beginnnen zu viele neue. Trotzdem nehme ich mir vor, wieder regelmäßig zu bloggen — und sei es nur, dass ich reflektiere, was ich am Vortag im Unterricht erlebt habe. Ich hoffe, dass es mir besser gelingt, mich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren, wenn ich täglich schreibe. Ich werde wenigstens die Zeit vor 9:00 (vor 8:30, wenn da mein erster Unterricht beginnt) dazu verwenden, und in dieser Zeit wird mich niemand erreichen können — außer durch Lesen danach.

Ich muss mich bei den Verfassern der wirklich interessanten Kommentare dieses Blogs in den letzten Wochen entschuldigen; ich bin nicht einmal dazu gekommen, sie zu beantworten. Ich hoffe, ich kann das in neuen Einträgen tun.

Vielleicht wird sich der Charakter dieses Blogs ändern, wenn ich darin noch mehr meine Arbeit reflektiere: Für Menschen, die in einem ganz anderen Zusammenhang leben, ist das wahrscheinlich schlicht langweilig. Und es ist vielleicht auch nicht besonders passend, wenn ich als Lehrer an einer Hochschule über Probleme, Nichterledigtes und Schwierigkeiten schreibe. Ich glaube aber, dass sich dadurch, dass wir immer mehr nicht nur eine schriftliche, sondern eine hypermediale Existenz führen, die Beziehungen zwischen Leben/Biografischem hier und Arbeit dort ändern: Man lebt und arbeitet zugleich im Zustand der perpetual beta, man überschreibt die alten Versionen immer wieder mit neuen, man verlinkt die Versionen zugleich miteinander, und man überlässt es dem Zufall, wer wo andockt. Man kann Vorläufiges und Unfertiges schreiben, in der Hoffnung, dass es aufgegriffen wird und sich anders fortsetzen lässt, als man es selbst geplant hat. Diese Vernetzungschancen kann man wohl nur ergreifen, wenn man auch bereit ist, gelegentlich dumm zu erscheinen. Man muss vielleicht bereit sein, Gedanken zu äußern, die klischeehaft sind, auf Misverständnissen beruhren und zeigen, was man nicht verstanden habt — nicht in der Haltung der affektierten Bescheidenheit, sondern weil man tatsächlich mit seinen Grenzen leben muss und auf andere, z.B. Studenten, Kollegen und Kommentatoren, angewiesen ist.

Heute sitze ich den ganzen Tag im Zug und kann etwas nachschreiben: In den letzten beiden Wochen bin ich leider kaum zum Schreiben gekommen. Noch immer schaffe ich es nicht, unangestrengt und nebenbei zu schreiben. Es dauert zu lange; deshalb tröpfeln die Einträge nur.

Gestern habe ich vor einem Graduiertenkolleg in Rostock einen Vortrag über Wissenschaftsblogs gehalten; die Einladung verdanke ich meinem Freund Klaus Hock, der in Rostock Religionswissenschaft unterrichtet. Ich hatte mich mit wissenschaftlichen Blogs vorher nicht beschäftigt; mein Vortrag (Präsentation hier), ist eine sehr allgemeine Einführung in das Bloggen für Wissenschaftler. Ich wollte erkären, was Blogs sind und warum es für Wissenschaftler sinnvoll sein kann zu bloggen. Ich habe mich nicht intensiv damit beschäftigt, welche Typen von wissenschaftlichen Blogs es gibt. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass ethographische Analysen von akademischen Blogs sinnvoll wären — als Teil der Wissenschaftsforschung wie der Internetforschung.

Ich hielt meinen Vortrag im Rahmen eines Workshops über Wissenschaft und Kulturkontakt; Zugehört haben die Doktoranden des Kollegs, ihre Professoren und die übrigen eingeladenen Referenten. Wenn ich es richtig sehe; war den meisten das Bloggen ziemlich fremd. Jedenfalls haben nicht viele aufgezeigt, als ich fragte, wer Blogs liest oder selbst bloggt. Twitter kannten höchstens zwei oder drei. Bloggen, soziale Medien, webgestützte Publikationsformen — das sind immer noch Themen für kleine Minderheiten; nicht einmal für handverlesene Doktoranden in geisteswissenschaftlichen Fächern gehören sie zum Alltag.

Woran könnte das liegen? Vielleicht muss man Blogs weniger als ein Werkzeug verstehen, das bereitliegt und von jedem mit unterschiedlichen Zielen verwendet werden kann, sondern als Kommunikationsform innerhalb bestimmter sozialer Gruppen, wie etwa der Web 2.0-Szene — Knowledge Workern, die alltäglich und meist beruflich mit dem Web zu tun haben. Für diese Gruppe sind Blogs (nicht nur Blogs) konstitutiv, so wie für akademische Gruppen Dissertationen und Papers konstitutiv sind. Blog zu lesen oder zu schreiben ist eine soziale Praxis, die in andere Praktiken eingebettet ist: Wer Blogs liest, verwendet auch Feedreader, besucht BarCamps und ähnliche Veranstaltungen und kommuniziert auch über Tools wie Twitter und soziale Netze mit Angehörigen derselben Gruppe.

Sicher ist die Web 2.0-Szene nicht die einzige Gruppe, die mit Blogs kommuniziert. Nach meinem Vortrag hat mich eine Teilnehmerin darauf aufmerksam gemacht, dass ich die zahlreichen Blogs zu praktischen Themen überhaupt nicht erwähnt habe. Dass sich die Gruppen, die sich mit Weblogs über Themen wie Kochen und Gartenpflege verständigen, von den Bloggern, die über Web-Themen kommunizieren, deutlich unterscheiden, macht es noch schwieriger zu erklären, warum Blogs von bestimmten Kollektiven verwendet werden und von anderen nicht.

Blogs in der Lehre zu verwenden ist vielleicht auch vor allem eine Initiierung in eine bestimmte soziale Gruppe. Wenn Medien oder Kommunikationsformen für Gruppen konstitutiv sind, dann ist diese Gruppe schlicht nicht identisch mit den Gruppen, zu deren Kommunikationsmitteln wissenschaftlische Schreibformen gehören. Bloggende Akademiker wie Thomas Pleil und Jan Schmidt gehören zu beiden Universen; vielleicht ist die Frage interessant, in welchem Verhältnis in ihren Blogs die Regeln der einen Gruppe zu denen der anderen stehen. Können Blogposts zugleich wissenschaftliche Publikationen sein? Welche Spannungsfelder bauen sich zwischen Bloggen und wissenschaftlichem Publizieren auf? Und: Lebt nicht jeder interessante Diskurs von solchen Spannungsfeldern?

(Ich weiß, dass ich mich hier sehr unpräzise und eben nicht wissenschaftlich ausdrücke. Weiterverfolgen würde ich diese Gedanken gerne mit Methoden der Akteur-Netzwerk-Theorie. Empirische Untersuchungen zu dieser Thematik lassen sich vielleicht in Verbindung mit den Umterrichten sozialer Medien durchführen. Wann und warum gelingt es, Studenten in das Bloggen einzuführen?)

(Anmerkung: Ich komme erst heute, am 3.3., dazu, den Beitrag zu publizieren.)

Astrid Schwarz hat Helge und mich für Ö1 gefragt, woran man erkennt, ob Weblogs glaubwürdig sind [als Download hier, vorher ähnlich auf fm4 gesendet]. Ich habe ziemlich unvorbereitet geantwortet, und ich muss zugeben, dass ich über die Frage der Glaubwürdigkeit von Blogs und anderen Online-Quellen viel zu wenig nachgedacht habe. Vor allem wenn sie journalistisch ernst genommen werden wollen, müssen Blogs in einer nachvollziehbaren Weise auf die Glaubwürdigkeit ihrer Inhalte geprüft werden können. Übrigens spielt die Frage der Glaubwürdigkeit auch eine entscheidende Rolle bei der Diskussion des Verhältnisses von Journalismus und PR. PR kann nur dann behaupten, mehr als manipulativ zu sein, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit ausweisen kann.

Glaubwürdigkeit ist wohl eine Qualität, die es nur innerhalb von bestimmten sozialen Gruppen gibt, und sie ist immer an so etwas wie Prüfungs- und Autorisierungsverfahren gebunden. Mit diesen kollektiven Praktiken — die sich von technischen Praktiken nicht trennen lassen — muss man sich beschäftigen, wenn man über die Glaubwürdigkeit von Online-Quellen nachdenkt. Es spricht viel dafür, dass für Online-Publikationen noch Verfahren entwickelt werden müssen, die denen der klassischen Massenmedien entsprechen. (Was nicht heisst, dass Online-Medien nicht auch nach herkömmlichen Kriterien glaubwürdig sein können, und auch nicht, dass die herkömmlichen Medien diesen Kriterien immer oder auch nur meist entsprechen.)

Dass Menschen, die nur die Arbeitsweise klassischer Medien kennen, Probleme mit der Glaubwürdigkeit von Weblogs haben, hängt zu einem großen Teil damit zusammen, dass sie die Regeln der sozialen Gruppen nicht kennen, die Weblogs schreiben und lesen. Wer sich mit Blogs auskennt, hat eine Reihe von Anhaltspunkten dafür, ob man einer Autorin oder einem Autor trauen kann oder nicht: Kommentare, Links, Technorati-Autorität usw. Leute, die wie Armin Thurnher das Internet als Medium nicht ernst nehmen, beherrschen diese Regeln in der Regel nicht, ihnen ist das Internet als soziale Realität fremd — so wie übrigens auch vielen Bloggern die soziale Realität der älteren Medien und ihre Regeln fremd sind. Sinn dieser Regeln ist es zum einen, die Wahrheit von Behauptungen zu prüfen und zum anderen Personen Glaubwürdigkeit zuschreiben zu können, die solche Prüfungsverfahren anwenden.

Diese Regeln der Glaubwürdigkeit sind aber nicht einfach Konventionen unterschiedlicher sozialer Gruppen, sie sind an Technologien und Infrastrukturen gebunden, die sich bei Massenmedien und sozialen Medien deutlich unterscheiden. Innerhalb eines bestimmten technologischen und sozialen Rahmens wurden und werden Verfahren entwickelt, mit denen sich die Wahrheit von Aussagen überprüfen lässt, und mit denen sich die Glaubwürdigkeit von Personen, die Aussagen machen, bewerten lässt. (Personen, die bestimmte Verfahren nicht anwenden oder nicht auf sich anwenden lassen, sind nicht glaubwürdig.) Zum herkömmlichen Journalismus gehören solche Verifikationsverfahren (vom check, cross-check, double-check! bis zur Interviewtechnik), die von Bloggern mit journalistischem Anspruch übernommen werden. Tatsächlich gibt es aber in der Blogosphäre nur sehr simple Verfahren, um Personen oder Publikationen Glaubwürdigkeit zuzusprechen — im Wesentlichen beruhen sie auf der Autorität einer Person unter Bloggern, und damit setzen sie möglicherweise das voraus, was sie bestätigen sollen.

Vor diesem Hintergrund finde ich Tim Berners-Lees Versuche, den Wahrheitsgehalt von Online-Quellen bewertbar zu machen und in Publikationen zu deklarieren, wie sie produziert wurden (also z.B. ob und wie Fotos bearbeit wurden) nicht so naiv oder abwegig, wie sie vielen erschienen sind. Es muss Möglichkeiten geben, Personen und Publikationen an Kriterien der Vertrauenswürdigkeit zu messen, nicht um das Web Autoritäten zu unterwerfen, sondern um im Web dezentral Glaubwürdigkeit zuschreiben zu können.

Diese Überlegungen sind sehr provisorisch. Beim Schreiben erscheint es mir immer wahrscheinlicher, dass Verfahren zur Feststellung/Zuschreibung von Glaubwürdigkeit eines der wichtigsten Themen bei der weiteren Entwicklung von sozialen Medien bilden werden.

In die rechte Kolumne von Lost and Found habe ich unter Tips ein Linkblog eingefügt. Gemacht ist das Linkblog mit Publish2 (Blog hier), einem Service für Journalisten zum Sammeln und Austauschen von Links. Ins Leben gerufen hat ihn Scott Karp, der in seinem Blog Publishing 2.0 den Link-Journalismus ausgerufen hat und promotet. Publish2 hat die meisten Funktionen von Delicious und erlaubt es, Links auch an Delicious zu posten. (Was ich tue, denn für mich bleibt Delicious das wichtigste Werkzeug, um Informationen zu sammeln.)

Publish2 enthält aber auch Funktionen, die delicious nicht bietet, und die die Recherche und das Publizieren erleichtern. So kann man bei demselben Link private und öffentliche Notizen machen. In eigenen Feldern können das Veröffentlichungsdatum und die Quelle festgehalten werden. Außerdem gibt es drei Kategorien von Bookmarks: außer denen für die Publikation von Links kann man welche für laufende Recherchen und für Hinweise auf eigene Publikationen anlegen. Außer an Delicious lassen sich Links auch an Twitter schicken, wahlweise mit eigenem Text oder dem öffentlichen Kommentar für die Linksammlung.

Wichtigstes Arbeitsmittel ist ein Bookmarklet. Wie es funktioniert, habe ich in einem Screencast festgehalten:

Link: Das publish2-Bookmarklet

Die Linksammlung jedes Benutzers ist auf einer Seite erreichbar; dort können die Links ausgetauscht und auch kommentiert werden. (Meine Publish2-Links sind außer in diesem Blog hier zu finden. Ein RSS-Feed kann hier über Feedburner abonniert werden.) Über diese Linksammlung kann man sich mit wenigen Klicks ein Widget erstellen, das man als Linkblog in sein Blog einbauen kann.

Publish2 integriert das Sammeln von Links in den journalistischen Workflow, und zwar in einer webgemäßen Weise, bei der Informationen auf allen Bearbeitungsstufen geteilt werden. Es gehört so in eine Reihe mit anderen Netzwerken für Journalisten, die verteiltes gemeinsames Arbeiten im Web erlauben, z.B. Wired Journalists.

Der Offenheit des Web 2.0 widerspricht, dass man zugelassen werden muss, wenn man Publish2 verwenden will. Es wird gecheckt, ob man entprechend professsionellen Standards arbeitet — für mich riecht das etwas nach Korporatismus. Ich fände es besser, wenn man sich innerhalb des Service ein Netzwerk von Vertrauenspersonen aufbauen könnte, statt gleich am Eingang geprüft zu werden. Allerdings hat die Bestätigung meines Accounts nur eine Stunde gedauert (als media outlet habe ich mein Blog angegeben) und ich freue mich, an dieser Initiative teilnehmen zu können.

Ich arbeite noch immer an einem Redesign dieses Blogs — vor allem, um in einer dritten Kolumne ein Linkblog und eine Blogroll hinzuzufügen. Leider erlaubt es Typepad nicht mehr, ein vorhandenes Design in Advanced Templates zu konvertieren. Damit lassen sich Disqus-Kommentare nicht mehr einfach in ein Typepad-Blog integrieren. Die Kommentare der letzten Wochen sind vorläufig leider nicht mehr sichtbar.

Ich bin dabei, das Layout meines Blogs zu verändern. Eine Änderung habe ich schon vorgenommen und ein Widget für die Suche mit Lijit eingebaut. Lijit schlägt Benutzern, die auf eine Seite meines Blogs stoßen, weil sie bei Google oder auf dem Blog selbst einen Suchbegriff eingegeben haben, weitere Inhalte vor. Dabei wird nicht nur in meinem Blog gesucht, sondern auch in anderen Inhalten von mit selbst oder von Leuten, die zu meinem Netzwerk gehören. Die Suchergebnisse stellt Lijit in einem Overlay-Fenster dar. Der Service beruht auf der Google Suche. Einerseits können also meine eigenen Inhalte besser gefunden werden. Andererseits können Leserinnen mein Blog als Ausgangspunkt für Abfragen nehmen, bei denen nur Quellen verwendet werden, denen ich vertraue.

Auf Lijit bin ich durch Louis Gray gestoßen; ich habe erst ein wenig damit experimentiert. Eine sehr gute Erfahrung habe ich mit der Kundenkommunikation von Lijit gemacht: ich konnte mein Blog zunächst nicht durchsuchen, weil Lijit bei Suchabfragen ein www. vor den URL meines Blogs setzte. Nach einem Mail dauerte es keine 10 Minuten, und der Fehler war behoben. Thx Daniel Weiss!

Update, 13:28: Völlig entgangen war mir Ritchies ausführliches Post über Lijit.

Ich möchte in diesem Post den Blogger Louis Gray vorstellen. Einerseits, um — vor allem meine Studenten — auf ihn hinzuweisen, andererseits mit der Frage, was diesen Blogger, den vor einem Jahr fast noch niemand kannte, so erfolgreich macht. Und da ich mit mich mit Louis Gray auch beschäftige, um meinen Unterricht vorzubereiten, gehe ich manchmal ins Detail: Ich schreibe langatmiger, als mein Gegenstand ist — aber das ist vielleicht das Schicksal des Lehrenden.

Louis Gray hat es in einem Jahr an die Spitze der amerikanischen Tech-Blogger geschafft. Mark Evans stellt ihn so vor:

These days, one of the hottest one-man shows on the tech blogging scene is Louis Gray, who has literally come out of nowhere in the past few month. Now, Gray is literally everywhere – breaking stories, providing in-depth coverage of new startups such as FriendFeed, and cementing himself within the Techmeme 100 [Who’s Louis Gray? | Mark Evans].

Scouting

Gray lebt im Silicon Valley und schreibt meist über das Web 2.0. Über wichtige Social Media-Dienste hat er als einer der ersten gebloggt. Er arbeitet als Scout und entdeckt Themen, die in der Luft liegen:

I like writing about topics that haven’t already been trodden over a dozen times by other bloggers. While it’s clear I have a serious focus on next-generation RSS readers, link sharing and aggregation, and lifestreaming, I still like talking up Apple, Google, TiVo, or sports. [Who’s Louis Gray? | Mark Evans]

Einen Teil seiner Bekanntheit verdankte er sicher diesen Themen. Aber seine Beliebtheit geht vor allem darauf zurück, wie er sie behandelt.

Der Verbraucher bestimmt die Agenda

Auf dem Gebiet der Technik haben sich in den USA in den letzten Jahren professionelle Blogs durchgesetzt. Das bekannteste ist wohl Arringtons TechCrunch. Vor diesem Hintergrund von Technik-Blogs, die klassischer journalistischer Berichterstattung vielleicht manchmal überlegen sind, aber sich oft nur wenig von ihr unterscheiden, erstaunt es viele besonders, dass eine Person wie Gray so großen Erfolg hat. Aber Grays Erfolg ist eben genau darauf zurückzuführen, dass er wie ein Amateur schreibt, oder besser: dass er nicht den Blickwinkel der Anbieter und Entwickler übernimmt. Er schreibt, könnte man sagen, als ein gebildeter Verbraucher:

I’m one of those odd people with a liberal arts degree who is completely enamored with technology, but can’t code much more than HTML and simple JavaScript, so I cling to all things technology from a consumer perspective. [Who’s Louis Gray? | Mark Evans]

Viele Leser teilen seine Perspektive, wenn auch nicht sein Insider-Knowhow. Gray bietet Service: Man erfährt viel über neue Produkte und ihren Nutzen. Nie überschreitet er das Maß, das für einen Verbraucher und User interessant ist. Er macht Erfahrungen als first user, benutzt neue Tools, spielt mit ihnen und berichtet davon.

Übrigens wird der bloggende Consumer von der Industrie, über die er berichtet, sehr ernst genommen: Interessante Startups im Silicon Valley haben ihn eingeladen, sich an weiteren Entwicklungen zu beteiligen:

Now, I have the ability to make change at some of the most innovative companies, through conversations, where I couldn’t before. Also, I’ve been able to help expose and promote new services that have come to market but aren’t well known, especially in the RSS and lifestreaming arena. [Who’s Louis Gray? | Mark Evans]

Gray reflektiert über diese Rolle und er versteht sie als beispielhaft für neue Formen des Dialogs zwischen Firmen und Kunden. Unter dem Gesichtspunkt des Vendor Relationship Management ist es nicht unwichtig, dass die Diskussion über die Produkte beim Verbraucher stattfindet und nicht auf irgendwelchen Firmen-Sites.

Schreiben als darstellende Kunst

Gray ist ein geschulter professioneller Schreiber. Er bloggt nicht über seinem Beruf, aber er beschäftigt sich wohl auch in seinem day job mit Kommunikation. Unter dem Gesichtspunkt: Was kann man bei ihm für das Schreiben lernen? möchte ich nicht auf einzelne Techniken eingehen, die kann man sich auch bei anderen Autoren abschauen. Was man bei Gray lernen kann, ist die konsequente Selbstinszenierung, die Inszenierung des Schreibenden oder besser: des Beschreibenden, den die Leser beim Beschreiben und bei den Erfahrungen, über die er schreibt, beobachten. Fast kein Post ist nicht situierbar, bezieht sich nicht auf eine datierte und lokalisierte persönliche Erfahrung — und Ort und Zeit dürften jeden faszinieren, der sich für Grays Themen interessiert:

That I get to enjoy the sheer geekery of the Valley at the same time is a major plus as well. [louisgray.com: iPhones Aplenty in Silicon Valley Geek Mecca]

Gray ist kein monothematischer (auf ein Thema beschränkter) Blogger. Er schreibt auch über Sport, über Filme und über seine Familie. In einem seiner Posts denkt er über das Bloggen nach und sagt: Dein Blog ist deine Marke! Durch kein Profil in einem sozialen Netzwerk kann man so viel über sich offenbaren, kann man sein Bild in der Öffentlichkeit so gut gestalten wie durch ein Blog:

it seems to me the clearest, newest definition of a blog is that it is your personal brand. Whether you have tens of visitors or tens of thousands, whether you have dozens of comments or none at all, the content on your blog, in total, represents you, and if done well, can define you, to those who know you well, or those who do not [louisgray.com: New Reality: Your Blog Is Your Brand].

In jedem Post spielt die Person Louis Gray mit, die der Leser kennengelernt hat und gerne begleitet. Es gelingt ihm, salopp gesagt, rüber zu kommen. Wer ihn liest, interessiert sich für den sehr lebendigen Menschen Louis Gray, der genau den sympathischen Geek verkörpert, den viele seiner Leser selbst gern darstellen möchten.

Howard Rheingold spricht vom Schreiben als darstellender kunst. Vermutlich ist jeder erfolgreiche Blogger ein guter Performer, der das Blog als Bühne benutzt. Aber wenige beherrschen diese Kunst so gut wie Louis Gray.

Als Versuch habe ich bei Lost and Found das Kommentarsystem Disqus eingebaut. Damit sind Threads bei Kommentaren und — wenn man sich bei seesmic anmeldet — auch Video-Kommentare möglich. Wer sich bei Disqus registriert, kann alle eigenen Kommentare verfolgen und sie in seinen FriendFeed integrieren.

Leider habe ich noch keine Möglichkeit gefunden, die letzten Kommentare in der Sidebar anzuzeigen. Aber wenn es ein entsprechendes Widget nicht schon gibt, wird es nicht lange auf sich warten lassen.

Update, 13:11: Dank zeroks Kommentar konnte ich das Widget mit den letzten Kommentaren einrichten. Dringende Reparaturen (Archiv, Suche) müssen leider noch etwas warten.

Disqus funktioniert bei Typepad im Augenblick nur, wenn man die Advanced Templates benutzt. Widgets u.ä. müssen dann im Quelltext eingebaut werden.

Mark Bernstein hebt Anna Rogozinskas Präsentation über Diätblogs auf der BlogTalk als fine bit of fine bit of Web scholarshiphervor:

here’s a lot to be learned, here, both descriptive and prescriptive; I’m not sure we know a lot more about cultivating Web and Wiki communities than we did when Powazek wrote the book.

Die Präsentation auf Slideshare:

Anna Rogozinska beschreibt ihre Arbeit hier; Notizen von Stephanie Booth hier

Anna Rogozinska untersucht, wie Bloggerinnen ihre Identität konstruieren, sie spricht von writing the self und fragt komplemetär how to ‚read‘ identity from the logovisual discourse of the internet.
Sie spricht vom Kontext als einem Schlüsselbegriff der anthropologischen Untersuchung des Internet, und unterscheidet dabei zwischen medialem, sozialem und kulturellem Kontext. Obwohl sie einen ganz anderen Ausgangspunkt hat, gibt es hier eine Brücke zu Teun A. van Dijks Untersuchungen von Kontextmodellen (meine ersten Notizen dazu hier). Vielleicht stellt sich hier die Frage nach dem Verhältnis von Kontext und repräsentiertem Kontext oder Kontextmodell.

Mich interessiert, ob sich Anna Rogozinska auch mit der Beobachtung/Beobachtbarkeit von Blogs und der wechselseitigen Regulierung (z.B. einer von außen zugeschriebenen Identität) beschäftigt hat. Wo findet die Konstruktion der Identität statt? Beim Bloggen oder beim Lesen des Blogs in seinem Kontext?

Jill Walker Rettberg, Weblogs: Learning in Public. Studenten, die bloggen, schreiben nicht für eine Lehrerin oder einen Lehrer allein, sondern für eine Öffentlichkeit. Jill Walker Rettberg (die ich leider nicht früher entdeckt habe) beschreibt, wie Teilnehmer eines ihrer Kurse mit der Erfahrung umgehen, dass ihre Blogs tatsächlich gelesen werden. Ich finde die Kriterien Beobachtbarkeit und Anschlussfähigkeit wieder, in denen sich Blogs von anderen Gattungen unterscheiden. (Assoziationen: Die Schulen und Universitäten organisieren das Wissen bisher zusammen mit dem physikalischen Raum; Wissen erlaubt Macht/Kontrolle über diesen Raum; umgekehrt werden Lernen und Wissen über den Raum kontrolliert. Im Netz wird das Wissen über seine digitale Verarbeitung kontrolliert; umgekehrt ermöglicht es das Wissen, die Datenflüsse zu kontrollieren. Die territoriale Organisation des Wissens gelangt an ihr Ende und wird so vielleicht erst sichtbar. Vielleicht hängt auch die Frage, oder besser: die Krise der Professionalität im Web damit zusammen, dass unseren Vorstellungen von Berufen letztlich räumliche Organisationen zugrunde liegen.) Sie beschäftigt sich vor allem mit den neuen Formen von Regulation und Korrektur, zu denen es durch die Vernetzung von Blogs mit anderen Blogs und Kommentaren kommt. Sie bezieht sich auf Steven Johnsons Emergence:

Organisation in a network without hierarchical control requires visibility and feedback, Johnson writes:

Relationships in these systems are mutual: you influence your neighbors, and your neighbors influence you. All emergent systems are built out of this kind of feedback, the two-way connections that foster higher learning. (2002: 120).

That’s what blogging is about, I said. It’s about taking control of your own learning, finding your own voice, and expressing your own opinions. It’s about responding to the world around you and listening to the responses you receive in return. The class was silent, patiently waiting for the break.

Dieser Gedanke ist vielleicht ein Gegenstück zu Tons Owning Your Learing Path, das den Lernenden in den Mittelpunkt stellt.