— Florian Gossy (@floriangossy) December 20, 2012

Über die Feiertage habe ich das Multimedia-Feature Snow Fall: The Avalanche at Tunnel Creek der New York Times gelesen—und danach nicht wenige Artikel darüber (einen guten Überblick liefert Mediagazer; interessant die Diskussion auf Reddit). Snow Fall ist viel gelobt worden, vor allem wegen der Art und Weise, wie Medien und Text aufeinander bezogen sind. Das ist aber nur ein Grund dafür, dass dieses Feature bemerkenswert ist. Der Text selbst ist von hoher literarischer Qualität und entspricht in seiner Schreibweise der Art und Weise, wie die Medien in ihm erscheinen. Interessant ist auch, wie in diesem Feature Medien und Daten verarbeitet werden, die von den Akteuren selbst erzeugt wurden. Und als eigenständiges Projekt in mehreren Kanälen zeigt das Feature neue Möglichkeiten journalistischer Publikationen jenseits vorweg definierter Zeitungs- oder Magazinformate. Weiterlesen

Meist beschäftige ich mich mit eher kurzen Formen für das digitale Publizieren, mit Blogposts oder Tweets. Kaum beachtet habe ich in den letzten Jahren leider das längstmögliche Format, nämlich das E-Book. Morgen werden Jutta Pauschenwein und ich auf der iUNIg-Tagung zum E-Book einen Workshop zum Thema Neue E-Book Formate – eine Chance wissenschaftliche Arbeiten zu publizieren? moderieren—für mich eine Gelegenheit, mich endlich wenigstens etwas in dieses Thema einzuarbeiten.

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Vor ein paar Tagen habe ich das lange erhoffte Invite zu Branch bekommen und gleich eine Branch gestartet. Nach dieser ersten eigenen Erfahrung erscheint mir Branch noch interessanter als vorher. Branch repräsentiert für mich—ähnlich wie das bei Google leider gescheiterte Wave—eine eigene, neue Gattung oder ein neues Genre von Online-Texten: im Ansatz dialogisch (man kann monologisch bloggen, aber nicht branchen) und zugleich hypertextuell, weil verschiendene Zweige miteinander in einer nicht-hierarchischen Weise verknüpft sein können.
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220px-Walter-ongIch habe Walter Ongs Orality and Literacy: The Technologizing of the Word1 vor allem gelesen, weil mich interessiert, was das Besondere an der Schriftlichkeit im Web ist. Ong schreibt in diesem Buch zwar nicht direkt über das Web—es ist Anfang der 80er Jahre erschienen. Aber er beschäftigt sich gründlich und historisch damit, was Schriftlichkeit ist. Dabei formuliert er Thesen, deren Übertragbarkeit auf das Web man untersuchen kann.
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Ein Interview mit Bruno Latour (siehe jetzt hier) hat mich angeregt, mich mit den Querverbindungen zwischen Latour und der Semiotik von A.J. Greimas zu beschäftigen. Der Greimas’sche Begriff des internen Referenten und Latours Konzept der Referenzketten eignen sich möglicherweise dazu, Eigenschaften von Hypertext, vor allem seiner rhetorischen Wirkung, zu beschreiben.

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In einer Frankfurter Rundschau, die ich vorgestern auf dem Flug von Frankfurt nach Graz gelesen habe, bin ich auf einen Artikel über adaptives Denken gestoßen; Gerd Gigerenzer beschreibt darin, weshalb intuitive Entscheidungen in den meisten komplexen Situationen erfolgreicher sind als Entscheidungen, die auf einem möglichst umfassenden Tatsachenwissen basieren. Beispiel: Ein Baseballspieler fängt einen fliegenden Ball nicht, indem er dessen Flugbahn berechnet. Er verwendet stattdessen eine ganz einfache Methode:

1. Fixiere den Ball mit deinen Augen. 2. Beginne zu laufen. 3. Passe Deine Laufgeschwindigkeit so an, dass der Blickwinkel konstant bleibt. Der Spieler kann alle Informationen ignorieren, die man benötigt, um die Flugbahn des Balls zu berechnen. Er löst dieses Problem nicht durch etwas Komplexes, sondern durch etwas ganz Einfaches. Er beachtet nur eine einzige Größe, den Blickwinkel, den er konstant zu halten versucht.

Wie könnte ein solcher Anpassungsmethode für die Gegenstände aussehen, die ich vermittele? Kann ich mich auf ein Objekt konzentrieren und mich—wie der Baseballspieler—so bewegen, dass ich es immer im Auge behalte und dadurch etwas erreiche, nämlich ein langfristig nutzbares Wissen zu vermitteln?

Ich überlege, ob ich diesen Punkt nicht am besten mit dem Ausdruck Hypertext bezeichnen kann (ich benutze Hypertext und Hypermedium synonym). Hypertext unterscheidet das Web von anderen Medien und er unterscheidet es von den anderen Teilen des Internet. Die gesamte Architektur des Web dient dazu, Hypermedialität zu ermöglichen. Hypertext ist die Ursache dafür, dass man digitale Oberflächen, bis heute Bildschirme, verwenden muss, um im Web zu kommunizieren. Dabei ist das Web letztlich ein Hypertext, genauer: ein hypermediales System. Von jedem Punkt aus kann zu jedem anderen verlinkt werden. Auch was man Web auf Knopfdruck nennt, ist nicht etwas, das als zusätzliches Element zum Hypertext hinzukommt; Hypertext besteht gerade darin, dass ich in Echtzeit von einem Element zu einem mit ihm verknüpften gelangen kann. Das Web ist ein Real-Time-Medium, in dem alle Inhalte gleichzeitig erreichbar sind und beliebig miteinander verbunden werden können.

Für meinen Unterricht bedeutet das:

  1. Es gibt eine Ebene der technischen Basis, auf der es darum geht, was Hypertext ist, wie er technisch realisiert wird, mit welchen Mitteln man ihn produziert und wie man ihn publiziert. Zu dieser Ebene gehört auch, wie Hypertext und Medien zusammenspielen, wie man Hypertext durchsucht und wie er dargestellt wird.

  2. Es gibt hypertextuelle Formate oder Genres, die z.T. erst entwickelt werden und sich ständig verändern. Beispiele sind Blogs, Microblogs, Wikis oder Profile. (Dabei ist eine offene Frage, ob ein konkreter Text nicht meist zu mehreren dieser Genres gehört.) Diese Genres realisieren Eigenschaften des Hypertexts in kommunikativen Situationen oder für kommunikative Zwecke. Sie gehören nicht zur Ebene der Anwendungen (siehe unten), aber sie werden auf dieser Ebene in bestimmter Weise interpretiert und geformt. Dies ist die Ebene der sozialen Medien, der Kommunikation im Web.

  3. Es gibt Anwendungen für Hypertext—für meinen Unterricht relevant sind dabei Journalismus und Public Relations. (Politische Kommunikation, Wissenschaft, Wissenmanagement oder Lehre und Unterricht sind weitere Anwendungen). Diese Anwendungen stellen Kontexte für Hypertext dar, und sie werden durch die Möglichkeit hypermedialer Kommunikation verändert. Die Kommunikationsformate der zweiten Ebene werden auf dieser Ebene einerseits eingeschränkt und andererseits erweitert.

  4. Auf einer vierten Ebene lässt sich das, was auf den ersten drei—der technischen, der kommunikativen und der institutionellen—stattfindet, wissenschaftlich untersuchen: das wäre die Ebene der Webwissenschaft.

Für meine Unterricht an unserem Studiengang ist die zweite Ebene wohl die wichtigste. Zukünftige Medienpraktiker müssen die Kommunikationsformen im Web und ihre Dynamik verstehen. Dabei ist aber die Hypertextualität das verbindende Element: Es kommt darauf an, die spezifischen hypertextuellen Möglichkeiten dieser Formate zu begreifen, insbesondere die Verknüpfungsmöglichkeiten, durch die sie auf der Anwendungs- oder Institutionsebene relevant werden. Um diesen Unterricht auf einem Hochschulniveau, also wissenschaftlich fundiert geben zu können, ist dabei eine Rückbindung an die vierte Ebene wichtig—die allerdings gerade erst entsteht. Hier ist für mich—sozusagen als passende Analyse-Ebene für die hypertextuellen Formate oder Genres—eine mikrosoziologische Untersuchung von Webkommunikation am interessantesten, wie sie bisher nur rudimentär existiert.

Gestern habe ich in einem Aufsatz Jörg R. Bergmanns (als PDF hier) gelesen:

Wenn nun z.B. ein Sprecher die Worte eines anderen zitiert, tritt der, der diese Worte aktiviert, neben den, von dem diese Worte stammen. Diese Aufspaltung des Sprechers im Zitat aber hat weitreichende Konsequenzen, etwa die, daß die Person, die spricht, die Verantwortung für die Äußerung, die sie wiedergibt, an denjenigen delegieren kann, dessen Worte sie zitiert und dem diese Worte gewissermaßen ‚gehören‘.

In der gleichen Weise, in der GOFFMAN das Konzept des ‚Sprechers‘ dekonstruiert, zieht er auch verschiedene Beteiligungsrollen, die im Konzept des ‚Hörers‘ enthalten sind, typologisch auseinander. So unterscheidet er u.a. ratifizierte von nicht ratifizierten Zuhörern, und im Hinblick auf die erste Gruppe nochmals zwischen angesprochenen und nicht angeprochenen Rezipienten bzw. zwischen zufälligen Mithörern und absichtlichen Lauschern bei der zweiten Gruppe. Alle diese möglichen Zuhörertypen faßt GOFFMAN dann zu dem zusammen, was er als „participation framework“ bezeichnet.

Was tue ich eigentlich, wenn ich bei Twitter etwas retweete, also einen Tweet eines anderen von meiner Adresse aus weiterschicke und den anderen dabei nenne? Auch dabei zitiere ich, allerdings in einer anderen Form: Der Zitierte ist verlinkt und wird darüber benachrichtigt, dass ich ihn zitiere. Der zitierte Tweet geht an meine Follower, das sind (grob) die ratifizierten Zuhörer, und er ist für andere Webuser zugänglich, die nicht ratifizierten Zuhörer (die ich nicht ausgeschlossen habe, was bei Twitter möglich wäre).

Ich bin in einer „Gesprächssituation“ die dem mündlichen Zitieren sehr ähnlich ist und andererseits davon auch sehr verschieden (dasselbe gilt für schriftliche Zitate): Vergleichbar mit dem mündlichen Zitat, aber nicht völlig, ist der zeitliche Charakter der Kommunikation: Ich erreiche meine Follower zu einem Zeitpunkt x, wobei aber mein Tweet archiviert ist und ihn die meisten in einer bestimmten Zeitspanne wahrnehmen, nachdem er abgesendet ist—ausgedehnt dadurch, dass er auch bei FriendFeed (wo es ebenfalls ratifizierte und nicht ratifizierte Leser gibt) und möglicherweise auch auf Facebook (wo nicht ratifizierte Adressaten ausgeschlossen sind) zu lesen ist.

Wenn ich retweete, kommuniziere ich bewusst: Ich will meine Follower über etwas informieren, das ich für interessant, witzig oder wichtig halte. Das erwarten sie vermutlich auch von mir, und deshalb haben sie meine Tweets abonniert. Was das Retweeten angeht, erwarten sie von mir eine Auswahl: Sie würden mir nicht mehr folgen, wenn ich eine großen Zahl der Tweets, die ich erhalte, einfach weiterschicken würde.

Für meine Follower habe ich eine bestimmte Rolle, zu der eine bestimmte Frequenz von Botschaften und ein bestimmter Charakter dieser Botschaften gehört. Was ich retweete, muss in diese Frequenz und zu diesem Charakter passen, es muss zu meiner Rolle passen. Wenn ich etwas retweete, erweitere ich andererseits meine Rolle, und zwar um so etwas wie einen Teil der (individuellen) Rolle der Person, deren Tweets ich weiterschicke. Sie ist für mich eine Ergänzung und ich eigne mir zum Beispiel etwas von ihrer Autorität an.

Anders als beim mündlichen Zitat gibt es ein @-Link zu der Person, die ich zitiere, sie erfährt davon (sie erhält meinen Tweet als eine Antwort auf ihre Tweets) und meine Follower können sich zu ihr durchklicken. Sie könnte mich „bannen“, wenn ihr nicht passt, dass ich sie zitiere. Sie kann mir aber auch folgen, wenn sie erst durch mein Retweeten davon erfährt, dass ich ihr folge. Wie stehen also in einer ziemlich spezifischen Beziehung zueinander, die durch die Institution Twitter möglich wird oder zu ihr gehört, und die wiederum auf der Institution Web (ohne die es diese Links nicht gäbe) basiert. Diese Art der Beziehung gibt es im Web (außer bei Microblogging-Diensten) so sonst nicht, und es gibt sie erst recht nicht außerhalb des Webs.

Meine Beziehungen zu den Leuten, denen ich followe (deren ratifizierter Zuhörer ich bin und die von mir gelegentlich retweetet werden) gehören zu meiner Rolle als Twitterer. Das wird bei Twitter dadurch unterstrichen, dass für jeden auf meiner Twitterpage sichtbar ist, wem ich folge. Ähnliches gilt für die Twitterer, die mir folgen.

Diese Twitter-spezifischen Erwartungen stehen wieder in komplizierten Beziehungen, zu anderen Rollen, die ich im Web (z.B. als Blogger, als Autor anderer Texte, als Mitglied in bestimmten sozialen Netzwerken) und außerhalb des Webs (z.B. als Lehrer) habe. Als jemand, der twittert, bin ich ein Autor in einer bestimmten medialen Öffentlichkeit, und ich kann auch im Web nur als solcher wahrgenommen werden—von Menschen, die mich sonst gar nicht kennen. Ich konstruiere mich Twitter-spezifisch, und nur Leute, die dieses Medium mit seinen besonderen Erwartungshaltungen nicht verstehen, reagieren auf meine Tweets ausschließlich wie auf in einer anderen Öffentlichkeit geäußerte Sätze.

Zurück zum Retweeten, einer Twitter-typischen Form des Zitierens: Etwas verkürzt und abgehoben kann ich sagen: Das Retweeten konstituiert mich mit als Twitterer, der als Bestandteil eines Netzwerks von Leuten, denen er folgt, schreibt. Durch die Möglichkeit des Retweetens werde ich zum Autor einer sehr bestimmten Form von Hypertexten, die es ohne Microblogging nicht gäbe. Meine Autorenrolle ist von anderen Twitter-typischen Rollen (Follower, Followee) nicht ablösbar.

Das sind Anfangsüberlegungen zu einer Beschreibung von Web-spezifischen Rollen- und Erwartungssystemen. (Wobei ich voraussetzungsvolle Konzepte wie Rolle und Öffentlichkeit nur provisorisch verwende.) Ich hoffe, dass ich sie demnächst methodisch abgesicherter und systematischer fortsetzen kann. Naheliegend ist es, als nächstes die „individuellen“ Rollen oder Charakterisierungen einzelner Autoren und die zum System Twitter gehörenden Rollen voneinander zu unterscheiden. Leider kenne ich Goffman bisher fast gar nicht: Allein der Ausdruck participation framework ist für jemand, der sich mit sozialen Medien beschäftigt, faszinierend.