Gestern habe ich die lange Reportage über Migration in der Klimakrise The Great Climate Migration Has Begun im New York Times Magazine gelesen. Im Fokus steht die Migration aus Mittelamerika in die USA oder—für die, die nicht so weit kommen—nach Mexiko. Berichte über Einzelschicksale von Migrantinnen und Migranten aus Guatemala und El Salvodor bilden aber nur eine Ebene des Textes und der Fotografien. Der Text macht es möglich, sich in die Leiden der Betroffenen einzufühlen, und er zeigt die Größenordnungen dieses Leids durch laufende Wechsel der Perspektive auf das Schicksal von Millionen und Milliarden. Auch wenn man sich schon lange intensiv mit der globalen Erhitzung und ihren Folgen beschäftigt hat, ist man von diesem Text betroffen. Am Ende fasst Abrahm Lustgarten zusammen, dass jedes Grad zusätzlicher Erwärmung für etwa eine Milliarde Menschen bedeutet, dass sie ihre Lebensgrundlagen verlieren und migrieren müssen: in die reichen Länder, wenn sie sehr erfolgreich sind, oder in die großen Städte des eigenen Landes oder der Gebiete zwischen ihrer ursprünglichen Heimat und dem globalen Norden, wenn sie nicht alle Mauern und Absperrungen nicht überwinden können.

The window for action is closing. The world can now expect that with every degree of temperature increase, roughly a billion people will be pushed outside the zone in which humans have lived for thousands of years.

Mir ist bei der Lektüre ein Tweet eingefallen, den ich am Vortag gelesen hatte: Klimawandel bezeichnet nicht ein Ereignis, sondern eine Ära. Diese Ära hat schon begonnen und niemand der in diesem Jahrhundert Geborenen wird ihr Ende erleben. Von dem, was wir heute tun, hängt nur ab, wie einschneidend die Veränderungen sein werden, zu denen die globale Erhitzung und die mit ihr verbundenen ökologischen Krisen führen werden.

Die Reportage ist ein Beispiel für anspruchsvollen Klimajournalismus. Einerseits integriert sie eine Vielzahl von Aspekten, vor allem solche, die mit dem globalen Charakter der Klimamigration zu tun haben. Der Autor konzentriert sich auf Mittelamerika, er bezieht sich aber immer auch auf die anderen Gebiete des globalen Südens, die am meisten unter der Erhitzung leiden. Eine Animation gleich zu Beginn des Artikels zeigt, in welchen Gebieten die Temperaturen so ansteigen werden, dass Menschen dort kaum mehr leben können. Ausführlich geht der Autor darauf ein, welche Konsequenzen die Migration für die Städte haben wird, in die viele der Migranten flüchten. Er diskutiert auch, wie die reichen Länder auf die Migration reagieren werden. Wahrscheinlich ist dafür der Brexit bereits ein erstes Signal. Schon eine relativ beschränkte Migrationswelle hat damals wohl den Ausschlag dafür gegeben, dass eine Mehrheit der Briten sich für Lösung von der EU entschieden hat.

Der Artikel ist durchgängig mit wissenschaftlichen Forschungen verlinkt. Diese Forschungen werden nicht nur zitiert, sondern man erfährt, dass sie z.T. direkt in Zusammenhang mit der Reportage unternommen wurden. Das ist vielleicht der interessanteste Aspekt dieser Reportage: Sie ist eine Komponente eines größeren Forschungszusammenhangs. Die Reportage gehört zu den Inhalten, die bei diesem Projekt entstehen. Sie wurde nicht im Nachhinein geschrieben, um wissenschaftliche Ergebnisse zu popularisieren, und sie wurde nicht in Auftrag gegeben, um Öffentlichkeitsarbeit für ein wissenschaftliches Projekt zu machen. Journalistische und wissenschaftliche Arbeit gehen ineinander über, wobei sowohl die journalistischen als auch die wissenschaftlichen Wahrheits-, und Glaubwürdigkeits- und Publikationskriterien eingehalten werden.

Trotz dieser inhaltlichen Komplexität und trotz ihrer Mehrschichtigkeit ist die Geschichte linear erzählt und linear lesbar. Die Recherche des Autors stellt dabei den Erzählzusammenhang her. Die Erzählung wird durch andere Texte dieses Projekts fortgesetzt werden. Dabei ist die Reportage für die Lektüre an einem Bildschirm geschrieben, auf dem sie von oben nach unten bewegt wird. Sie schließt damit an die Form an, die die New York Times vor ein paar Jahren mit Snow Fall in den Journalismus eingeführt hat. Es wird eine haptische Erfahrung möglich, die anders ist als bei einem auf aufeinanderfolgende Seiten gedruckten Artikel. Zu diesem haptischen Erlebnis gehört es, dass man sich während der Lektüre durch das Berühren von Links zu den Publikationen bewegen kann, auf die der Text verweist, dass also die virtuelle Ebene der Intertexte bei der Lektüre aktualisiert werden kann, so wie sich bei der Startanimation durch das Bewegen des Artikels auf dem Screen die virtuelle Schicht mit den zukünftigen Hitzegebieten der Erde in eine aktuelle Schicht verwandelt.

Diese Geschichte zeigt Möglichkeiten des Journalismus angesichts von Globalisierung und Erdsystemwissenschaft. Journalistische und wissenschaftliche Publikationen entstehen zusammen als Bestandteil desselben Projektzusammenhangs. Die Präsenz einer virtuellen Ebene macht die Leserin oder den Leser dafür verantwortlich, den Text zu gestalten und damit direkt an der Recherche-Arbeit der beteiligten Wissenschaftler*innen zu partizipieren. Aktivismus ist nicht nur eine Konsequenz der geschilderten Entwicklungen, er wird durch transparente Dokumentation unterstützt.

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