In dieser Woche habe ich meinen Vater besucht. Mein Vater ist 1922 geboren, er hat seit etwa 90 Jahren wahrscheinlich jeden Tag etwas gelesen. Wenn ich ihn sehe, sprechen wir immer auch über Texte. Wenn er schlafen geht, nimmt er ein Reclamheft mit Seneca-Briefen, ein Smartphone und eine Brille mit.

Seneca, Briefe an Lucilius, 5. Buch. Cover einer Reclam-Ausgabe
Seneca, Briefe an Lucilius, 5. Buch. Cover einer Reclam-Ausgabe
Wir haben in der letzten Woche zwei Seneca-Briefe zusammen übersetzt. Ein wenig hat mich das in meine Schulzeit zurückversetzt, als ich vor jeder Latein-Schularbeit Nachmittage mit meinem Vater gelernt habe. Wahrscheinlich habe ich mich damals daran gewöhnt, Texte zu lesen, die sich nicht einfach erschließen, die man übersetzen muss, und die immer auch fremd bleiben—die einen aber auch hoffen lassen, die fremde Sprache, in der sie geschrieben sind, irgendwann zu beherrschen, so dass man sie ohne Übersetzung einfach versteht.

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Habe eben den Artikel RCP8.5 tracks cumulative CO2 emissions (Schwalm, Glendon, and Duffy 2020) gelesen, über den in vielen Medien berichtet wurde (meine Hypothesis-Annotationen hier). Es geht darum, welches der Szenarien, die der Weltklimarat für die zukünftige Entwicklung vorgeschlagen hat, am realistischsten ist. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass das Worst Case-Szenario RCP8.5 vom bisherigen Verlauf der CO2 Emissionen bestätigt wird: Die kumulierten Emissionen bis 2005 weichen nur um ca. 1% von diesem Szenario ab. Andererseits stellen sie fest, dass dieses Szenario auch die Risiken der wahrscheinlichen Entwicklung bis 2050 am besten erfasst. Zwar sind die aktuellen CO2-Emissionen niedriger als in RCP8.5—sie liegen zwischen diesem Szenario und dem nächstschlimmen RCP4.5. Aber die inzwischen bekannten Feedback-Mechanismen (z.B. Auftauen des Permafrosts, Zerstörung von Böden, zunehmende Waldbrände) tragen zusätzlich zum Treibhauseffekt bei, so dass das Business-as-usual-Szenario RCP8.5 den tatsächlichen Risiken der aktuellen Entwicklung am besten entspricht.


Kumulative Emissionen seit 2005

Gesamte kumulierte CO2-Emissionen von 2005 bis 2020, 2030 und 2050. Datenquellen: Historische Daten aus dem Global Carbon Project (6); Emissionen, die mit den RCPs übereinstimmen, stammen aus der RCP-Datenbank Version 2.0.5 (https://tntcat.iiasa.ac.at/RcpDb/); „business as usual“ und „business as intended“ stammen aus den Szenarien „Current Policies“ bzw. „Stated Policies“ der IEA (9). Die IEA-Daten (nur fossile Brennstoffe aus der Energienutzung) wurden mit der zukünftigen Landnutzung und den Industrieemissionen kombiniert, um die gesamten CO2-Emissionen zu schätzen. Die zukünftigen Landnutzungsemissionen wurden anhand linearer Trendanpassung an die Landnutzungsemissionsdaten des Global Carbon Project von 2005 bis 2019 geschätzt (6). Industrieemissionen werden auf 10% der Gesamtemissionen geschätzt. Die endgültigen IEA-Daten verwenden historische Werte bis 2020 und danach Szenariowerte. Biotische Rückkopplungen sind in keiner IEA-basierten Schätzung enthalten. Es ist zu beachten, dass die RCP-Antriebsniveaus (im Original: forcing levels) die Summe der biotischen Rückkopplungen und der menschlichen Emissionen darstellen sollen. (Übersetzung der Original-Bildunterschrift mit Hilfe von https://www.deepl.com/translator). Originalgrafik: https://www.pnas.org/content/early/2020/07/30/2007117117/tab-figures-data. Distributed under Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives License 4.0 (CC BY-NC-ND)

Ein Hintergrund dieser Veröffentlichung in den Proceedings der Akademie der Wissenschaften der USA sind Forschungen zur Klimasensitivität. Soweit ich informiert bin, ist dabei vor allem die Studie An assessment of Earth’s climate sensitivity using multiple lines of evidence (und das öffentliche Echo auf sie) relevant (Sherwood et al. 2020), bei der das radiative forcing, der Strahlungs-Antrieb, zu dem eine Verdoppelung der Treibhaugase gegenüber dem vorindustriellen Niveau führt, genauer angegeben wird als bisher. Sie beträgt danach mit 66% Wahrscheinlichkeit 2.6‐3.9 Grad Kelvin.

Zeke Hausfather, einer der Autoren dieser Studie hat zu der Verteidigung von RCP8.5 in einem Twitter-Thread kritisch Stellung genommen. Darin geht er auf eine Reihe weiterer Forschungen und Modelle ein, aus denen sich ihm zufolge eine Relativierung der Wahrscheinlichkeit von RCP8.5 ergibt—wenn man das so formulieren darf.

Hinter der auf viele esoterisch wirkenden Frage nach der Wahrscheinlichkeit von RCP8.5 steht das—soweit man es wissen kann—wichtigste gesellschaftliche Problem der Gegenwart—ob und wie sich vermeiden lässt, dass die Erde das Holozän endgültig verlässt und sich zu einem Treibhaus entwickelt. Mich interessiert hier, wie dabei das Verhältnis von wissenschaftlichen, journalistischen und anderen Inhalten oder Veröffentlichungen zueinander ist, und ob sich Content-Strategien für diese Art von wissenschaftlicher Diskussion formulieren lassen. Wenn man wissenschaftliche Veröffentlichungen wie die zu RCP8.5 liest, merkt man schnell, dass sich hier nicht eine politische oder praktische Ebene von einer wissenschaftlichen abtrennen lässt, sondern dass es um die Interpretation komplexer Fakten geht, die, lax formuliert, sowohl naturwissenschaftlichen wie politischen Charakter haben, und die aber nicht (wie von den Klimaleugnern betrieben), politisiert werden dürfen, um unliebsame Folgen erkannter Fakten zu vertuschen.

Nachweise

Schwalm, Christopher R., Spencer Glendon, and Philip B. Duffy. 2020. “RCP8.5 Tracks Cumulative CO 2 Emissions.” Proceedings of the National Academy of Sciences, August, 202007117. doi:10.1073/pnas.2007117117.
Sherwood, S., M. J. Webb, J. D. Annan, K. C. Armour, P. M. Forster, J. C. Hargreaves, G. Hegerl, et al. 2020. “An Assessment of Earth’s Climate Sensitivity Using Multiple Lines of Evidence.” Reviews of Geophysics, July. doi:10.1029/2019RG000678.

Blick von Mala Učka am Berg Vojak über Istrien in Richtung Venedig
Blick von Mala Učka am Berg Vojak über Istrien in Richtung Venedig

Am letzten Wochenende waren wir in Kroatien, in Karlovac, Ičići und dann in Zagreb. Wir haben uns von unserer Freundin Erika verabschiedet, die im Juli gestorben ist. Erika hatte schon lange Krebs, das wussten wir. Wir haben aber nicht geglaubt, dass diese Krankheit sie einfach wegnehmen würde. Ich bin nicht sicher, ob sie es selbst erwartet hat. Wir waren und sind so ratlos wie ihr Freund, der in ihren letzten Wochen immer mit ihr zusammen war – nach der Corona-Zeit, in der er nicht aus der Lombardei hinausdurfte und Erika in Graz völlig allein im Krankenhaus lag.

Das Wochenende war drückend heiss. Wir haben viele Menschen kennengelernt, die für unsere Freundin wichtig waren und denen sie wichtig war. Gemeinsam zu trauern schafft eine Verbundenheit, die ich nicht kannte, selbst zwischen Menschen, die sich nie gesehen haben. Die Intimität, für die der Tod sorgt, ist stärker als jedes social distancing.

Erika war nicht religiös, jedenfalls nicht katholisch. Sie wurde nach ihrem Tod eingeäschert—wir haben vermutet, dass das ihrem Willen entsprach. Sie wurde in Karlovac neben ihrem Bruder beigesetzt. Erikas Bruder wurde im Kroatien-Krieg von einem Gleichaltrigen erschossen, der mit seiner Waffe spielte. Er war gerade erst erwachsen geworden. Erika ist über diesen besonders absurden Tod nie hinweggekommen. Als ich sie kennenlernte, hat sie eine Ausstellung dazu geplant. Sie hat sich später mit dem Schützen getroffen und blieb mit ihm in Verbindung. So hat sie versucht, nicht hart zu werden.

In Ičići hatte Erika eine kleine Ferienwohnung. Erika hat meist an mehreren Orten zugleich gelebt, aber in Ičići hat sie sich am wohlsten gefühlt. Wir haben einen kleinen Teil ihrer Asche im Meer, in ihrem Garten und auf einem Berg verstreut. Ich bin selbst so katholisch, dass mir solche privaten Rituale etwas riskant vorkommen (so wie das private Ritual, mit dem wir vor ein paar Jahren unsere Hochzeit auf Šipan gefeiert haben). Einmal habe ich versteckt ein Kreuzzeichen gemacht.

Den Namen Ičići habe ich von meinen Reisen auf die Insel Cres in Erinnerung. Er kam mir typisch kroatisch vor. Kroatien war damals für mich ein exotisches Land. Diesmal haben wir immer wieder auf Cres geschaut, vom Lungomare aus und, noch besser, von oben aus dem Gebirge. Ich hätte nie gedacht, einmal fast zu einem Familienbesuch hierhin zu kommen. Auch der Tag in Karlovac war eine seltsame Wiederholung. Fast genau ein Jahr vorher waren wir mit Anas Kindern in Karlovac, auf dem Weg nach Žirje. Nach Erikas Beisetzung haben wir von einer Terrasse auf die Stelle eines Flusses geschaut, an der wir damals gebadet haben.

Wir sind mit dem Bus zurück nach Graz gefahren und haben unterwegs Anas Tante in Zagreb besucht. An den Grenzen mussten alle Insassen des Busses dreimal aussteigen, in einer Schlange vor den Ordnungskräften warten und sich auf Ausweise oder erhöhte Temperatur kontrollieren lassen. Menschen, die vom Balkan kommen, sind in Mitteleuropa geduldet, aber nicht erwünscht. Erika hat auch über ein Ausstellungsprojekt nachgedacht, das diese Erfahrung von Grenzen verarbeitet, der Title war Smuggling.

Gestern habe ich die lange Reportage über Migration in der Klimakrise The Great Climate Migration Has Begun im New York Times Magazine gelesen. Im Fokus steht die Migration aus Mittelamerika in die USA oder—für die, die nicht so weit kommen—nach Mexiko. Berichte über Einzelschicksale von Migrantinnen und Migranten aus Guatemala und El Salvodor bilden aber nur eine Ebene des Textes und der Fotografien. Der Text macht es möglich, sich in die Leiden der Betroffenen einzufühlen, und er zeigt die Größenordnungen dieses Leids durch laufende Wechsel der Perspektive auf das Schicksal von Millionen und Milliarden. Auch wenn man sich schon lange intensiv mit der globalen Erhitzung und ihren Folgen beschäftigt hat, ist man von diesem Text betroffen. Am Ende fasst Abrahm Lustgarten zusammen, dass jedes Grad zusätzlicher Erwärmung für etwa eine Milliarde Menschen bedeutet, dass sie ihre Lebensgrundlagen verlieren und migrieren müssen: in die reichen Länder, wenn sie sehr erfolgreich sind, oder in die großen Städte des eigenen Landes oder der Gebiete zwischen ihrer ursprünglichen Heimat und dem globalen Norden, wenn sie nicht alle Mauern und Absperrungen nicht überwinden können.

A few days ago I read an interview for the 101st birthday of William Lovelock. Lovelock points out that he made his Gaia hypothesis not as a scientist but as an engineer. He has, I understand, been involved with measurement and control techniques and has therefore studied the Earth as a self-regulating system.

A little later I came across a somewhat older lecture by Tim Bernes-Lee through Teodora : Hypertext and Our Collective Destiny. Berners-Lee also has a global perspective, and he too sees himself as an engineer, not a theorist. In the lecture, Berners-Lee asks how to use the web, and especially how to use its core, the link, in such a way that it serves to connect humanity more closely. The opposite of this, which Berners-Lee calls

link - $

has been accepted so far. Unfortunately, this formula also describes what links and content are mostly used for in content strategy.
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Einige der bekanntesten Vertreter der Erdsystemwissenschaft haben jetzt in The emergence and evolution of Earth System Science (Steffen et al. 2020) die Geschichte dieser, wie es in dem Artikel heisst, transdisziplinären Wissenschaft dargestellt. Der Artikel macht verständlich, in welchen wissenschaftlichen Zusammenhang Publikationen zu den planetaren Grenzen, zum Anthropozän und zu Kipp-Punkten und Kaskaden von Kipp-Punkten gehören.

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Jacques Fontanille entwirft in Pratiques sémiotiques (Fontanille 2008) ein Modell semiotischer Ebenen, das von den Zeichen auf der untersten bis zu den Lebensformen auf der obersten Ebene reicht. Jede dieser Ebenen lässt sich, das ist seine These, semiotisch als Dualität von Ausdrucks- und Bedeutungsseite analysieren.

Ich lese Fontanilles Buch gerade und kann seinen Ansatz nicht im Detail beurteilen oder referieren. Mir sind einige Ausgangspunkte seiner Theorie bekannt, weil ich mich im Studium mit der Semiotik von Fontanilles Lehrer A. J. Greimas beschäftigt habe.

Stark vereinfacht kann man davon sprechen, dass im Modell Fontanilles bei einem semiotischen Prozess mehrere Ebenen involviert sind: Weiterlesen

Ich beschäftige mich gerade mit einer detaillierten Untersuchung der Beziehungen zwischen Konsum und Treibhausgas-Emissionen (Dubois et al. 2019). Einerseits finden sich darin sehr genaue Angaben dazu, welche Rolle der Verbrauch der Haushalte für die Erhitzung der Erdatmosphäre spielt. Insgesamt seien die Haushalte durch ihren Verbrauch für 72% der Emissionen von Treibhausgasen verantwortlich, und das vor allem in den Bereichen Mobilität (Autoverkehr und Flüge) und Lebensmittelkonsum (Fleisch- und Milchprodukte). Andererseits haben die Autorinnen und Autoren untersucht, wie man Haushalte zu einer Verringerung der Emissionen bringen kann. Ein Ergebnis ist, dass es utopisch wäre, auf eine nennenswerte Reduktion der Emissionen nur durch bewusste Veränderung des Konsumverhaltens zu setzen. Die Haushalte, also die Verbraucherinnen und Verbraucher, werden ihr Verhalten nur verändern, wenn sich die Policies der Regierungen ändern, wenn also politisch entschlossen gegen klimaschädlichen Konsum vorgegangen wird und umgekehrt klimafreundliches Verhalten gefördert wird. (Nicht im Fokus dieser Untersuchung stehen soziale und globale Unterschiede, also der Anteil der Reichsten—sowohl in bestimmten Ländern als auch weltweit—an den CO2-Emissionen. Siehe dazu u.a. Oswald, Owen, and Steinberger (2020), Wiedmann et al. (2020) und Ivanova and Wood (2020).) Weiterlesen

Katastophennachrichten über das Klima folgen immer schneller aufeinander (Tharoor 2020). Die Waldbrände in Sibirien, aber auch die Hitze hier in Europa sind Signale dafür, dass wir inzwischen auf dem steil nach oben zeigenden Teil des Hockeyschlägers angelangt sind, der durch Michael Mann zu einem Symbol der Klimakrise geworden ist.

Ich habe einen Tag aufgeschoben, Witnessing the Unthinkable von Joëlle Gergis zu lesen, das ich über Twitter entdeckt habe. Ich zögere, Texte über ökologische Zerstörungen, über Ökozide (Kloetzli 2020) zu lesen, obwohl ich mich beinahe jeden Tag mit Themen beschäftige, die mit der Überschreitung der Planetary Bondaries zu tun haben. Ich kann mich mit der Vorstellung, dass vieles von dem, was die Erde heute ausmacht, unrettbar verloren ist, nicht abfinden.

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Am Montagabend habe ich mich mit einigen Leuten aus dem Griesviertel getroffen, die wie Ana und ich Einspruch gegen einen Straßentunnel in unserer Nähe eingelegt haben, weil er zu noch mehr Autoverkehr in einem Viertel führen würde, in dem Lärm und Feinstaub schon jetzt die Gesundheit gefährden. Das Verfahren geht in die nächste Runde, und wir müssen alle noch einmal eine Stellungnahme abgeben. Einige der Leute, die widersprochen haben, kennen sich mit der Stadtentwicklung und Verkehrsplanung sehr gut aus. Ich habe wieder einmal viel gelernt (und wünsche mir dieselbe Gründlichkeit in der Content-Strategie).

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